Yannick Nézet-Séguin im Festspielhaus
Wenn die Essenz nicht ausreicht

Es war ein Abend der versprach, alles andere als gewöhnlich zu werden. Ich befand mich im prachtvollen Ambiente des Festspielhauses Baden-Baden, eingehüllt in die erwartungsvolle Stimmung, die vor dem Beginn eines Konzertes immer zu schweben scheint. Die Luft war erfüllt von gedämpftem Gemurmel, dem Knistern von Programmheften und dem gelegentlichen Aufflackern von Spannung, wenn ein neuer Besucher den Saal betrat.

Ich stand an einer Theke, auf der CDs und Bücher feilgeboten wurden. Daneben lagen einige Percussion-Instrumente für Kinder ausgestellt. Neugierig nahm ich eines der Instrumente in die Hand und versuchte mich an einigen experimentellen Rhythmen. Die Wirkung war komisch.

Ein älterer Herr ca. 70 Jahre, repräsentativ für den Altersdurchschnitt des heutigen Abends, näherte sich mir mit einem Augenzwinkern. „Sie sollten auf die Bühne gehen mit diesen Instrumenten“, sagte er, und ich musste lachen. „Ich fürchte, Nézet-Séguin würde mich ganz schnell von der Bühne jagen“, entgegnete ich.

Der Mann schien amüsiert. „Nézet-Séguin ist der beste Dirigent der Welt“, erklärte er mit der Leidenschaft eines wahren Bewunderers. „Haben Sie ihn schon mal live erlebt?“ Ich nickte und bemerkte, wie sich eine freudige Erwartung in mir ausbreitete. Der Gedanke, den Yannick Nézet-Séguin in Aktion zu sehen, während er das Chamber Orchestra of Europe durch die dritte und vierte Sinfonie von Brahms führte, erfüllte mich mit einer Art von Vorfreude, die nur die Aussicht auf hervorragende Musik erzeugen kann.

Die Uhr schlug 20 Uhr und das Stimmengewirr im Saal begann langsam zu verebben. Die letzten Gespräche wurden beendet und die letzten Programme noch schnell durchgeblättert. Dann wurde es still. Der Moment war gekommen. Ich konnte es kaum erwarten.

Es ist kein Leichtes, Brahms‘ dritte und vierte Sinfonien adäquat darzustellen, doch Yannick Nézet-Séguin und das Chamber Orchestra of Europe haben sich bei ihrem Auftritt im renommierten Festspielhaus Baden-Baden dieser Herausforderung mit scheinbarer Leichtigkeit gestellt.

Unter Nézet-Séguins leidenschaftlich präziser Führung begann das Konzert mit der Dritten Sinfonie in F-Dur, einem Werk, das oft in den Schatten seiner umfangreicheren Geschwister gestellt wird. Es wurde jedoch schnell klar, dass dieses unterschätzte Juwel in den Händen von Nézet-Séguin und dem Chamber Orchestra eine ernsthafte Wiederevaluation verdient, dazu gleich mehr.
Nach der Pause erklang Brahms‘ Vierte Sinfonie in e-Moll, ein monumentales Werk, das von den Musikern mit einem beeindruckenden Ausdruck von emotionaler Reife und technischer Brillanz angegangen wurde. Nézet-Séguin schien jeden Takt, jeden Ton sorgfältig zu formen, wobei er die Spannungen und Auflösungen in der Partitur elegant modellierte.

Das Chamber Orchestra of Europe spielte mit einem leidenschaftlichen Ensemblegeist, wobei die einzelnen Instrumentalisten immer wieder in den Fokus rückten, ohne den gesamten Zusammenklang zu stören. Der Finalsatze, ein chaconneartiger Allegro energico e passionato, war ein fulminanter Höhepunkt, dessen gefühlvolle Intensität den Saal wie eine Welle durchzog.
Nézet-Séguins Interpretation war eine, die Brahms‘ komplexe Strukturen und subtile emotionale Landschaften feierte, ohne sie zu übertriebenem Pathos aufzublähen. Dies war ein Brahms-Abend, der nicht so sehr auf das Dramatische setzte, sondern auf eine feine Durchdringung und Ausarbeitung der musikalischen Details, ein Ansatz, der dem Inneren der Werke gerecht wurde.
Die Dynamik zwischen Nézet-Séguin und dem Chamber Orchestra of Europe wirkte kohärent und intuitiv, als ob jeder Musiker die gleiche musikalische Vision teilte.

Die letzten Töne der vierten Sinfonie hallten noch durch das stolze Festspielhaus, als der Applaus aufbrandete, eine rohe, entfesselte Welle der Begeisterung, die sich mit einer seltsamen, beunruhigenden Schärfe in die Luft schnitt. Eine gewisse Groteske lag über dem Geschehen, als die Zuschauer, anstatt sich in einem gemessenen, respektvollen Beifall zu erheben, ihre Anerkennung mit wüstem Geschrei und unspezifischen Rufen nach „Zugabe“, „Da Capo“ und „Give us more“ zum Ausdruck brachten.
Kurz Bevor die Menge jedoch in einen wilden Aufruhr der Forderungen nach einer Zugabe fortsetzen konnte, wandte sich Nézet-Séguin an das Publikum. Mit einem charmanten Lächeln und einer unerschütterlichen Haltung lenkte er die Aufmerksamkeit des Saals auf sich. Es war eine meisterhafte Demonstration seiner Führungsqualitäten, die über das rein musikalische hinausgingen, und zeugte von seiner tiefen Sensibilität für die Dynamik zwischen Publikum und Künstlern.

Seine Worte, dass es viel von einem Orchester fordert, zwei Sinfonien an einem Abend zu spielen saßen tief. Es war eine Bemerkung, die ebensoviel Einsicht wie Empathie zeigte. Er fügte hinzu, dass das Orchester wieder auftreten würde und lud das Publikum ein, zu den Aufführungen am nächsten und übernächsten Tag zu kommen, falls sie noch mehr Musik hören wollten.

Es war eine sanfte, aber bestimmte Art, die Energie des Publikums zu leiten und die Erwartungen zu managen. Dabei gelang es Nézet-Séguin, das Publikum sowohl zu beruhigen als auch auf charmante Weise zu ermahnen. Seine Worte dienten als eine sanfte Erinnerung an den Respekt und die Wertschätzung, die wir den Künstlern schulden, die uns solch hervorragende Aufführungen bieten.
Seine Worte wirkten. Das Publikum nahm seine Botschaft auf, und das Geschrei nach einer Zugabe verstummte, ersetzt durch anerkennenden Applaus. Die Atmosphäre, die zuvor von einer verstörenden Wildheit geprägt war, kehrte zu einer ruhigeren und respektvolleren Stimmung zurück. Es war ein unerwarteter, aber ermutigender Abschluss, doch trotzdem: Das Maß an Entrücktheit, das die Menge an den Tag legte, war erschreckend und löste in mir eine tiefe Scham und Fassungslosigkeit aus. Es war, als ob die feinen Schattierungen von Brahms‘ Musik, die wir soeben erlebt hatten, durch das aggressive, unnachgiebige Getöse des Applauses entweiht worden wären. Ein solcher Jubel hätte vielleicht bei einem Rockkonzert oder in einem Fußballstadion seinen Platz gehabt, doch hier, in diesem Tempel der hohen Kunst, in diesem Saal, der noch von Brahms‘ elegischen Klängen vibrierte, wirkte er befremdlich und unangemessen.

Das Chaos des Moments war ein schmerzhafter Kontrast zu der verhallten Schönheit, die wir gerade erlebt hatten, und hinterließ ein Gefühl der Verwirrung und Entfremdung. Diese Szene, die eigentlich als Würdigung von Nézet-Séguins kraftvollem Dirigat und der Virtuosität des Chamber Orchestra of Europe hätte dienen sollen, erschien plötzlich wie ein skurriles Theaterstück, das die erhabene Resonanz des Abends in eine erschütternde Kakophonie verwandelte.

Nun möchte ich ein paar Schritte zurück wagen und zu dem kostbaren Juwel des Abends übergehen, einem musikalischen Moment, der sich tief in meine Seele eingebrannt hat, durch seine schlichte Eleganz und schimmernde Pracht. Ein magisches Intermezzo, das die umgebenden Kompositionen in seiner intensiven Leuchtkraft verdunkelte und uns allen ein Stück Unsterblichkeit schenkte: Dem Poco Allegretto, dem dritten Satz der Dritten Sinfonie von Johannes Brahms.

Jene erhabene Melodie, dieser tänzelnde Wechsel von Dur und Moll, erfüllte den prächtigen Saal des Festspielhauses Baden-Baden mit einer schwebenden Hoffnung, die weder von Schwermut noch Traurigkeit getrübt wurde. Sie war so leicht, so zart, sie flatterte durch die Luft wie eine Feder, die auf den sanften Windstößen der Harmonie tanzte.

Unter der fähigen Leitung von Nézet-Séguin und der meisterhaften Ausführung des Chamber Orchestra of Europe, schien der Satz heller und wärmer als jemals zuvor. Es war, als würde jede Note in strahlendem Licht erstrahlen, wie Sonnenstrahlen, die durch das Fenster eines alten Kathedralendoms brechen und den kalten Stein mit ihrer Wärme durchdringen.

Diese Darbietung war mehr als nur eine brillante Interpretation eines klassischen Werkes. Sie war eine Offenbarung, eine triumphale Demonstration der transzendenten Kraft der Musik, die durch ihre reine Schönheit und emotionale Tiefe strahlte. In diesen ungewissen Zeiten, in denen Dunkelheit und Zweifel allzu oft unsere Gedanken und Herzen bedrohen, war dieser musikalische Moment ein Leuchtfeuer der Hoffnung, ein strahlendes Beispiel für die Kraft der Kunst, Freude und Trost zu spenden.

Die Positivität des sonst so traurigen und tragischen, die aus dem Poco Allegretto sprudelte, war so intensiv, so unwiderstehlich, dass sie die umgebenden Sätze überschattete. Es war, als hätte Brahms diese Melodie als Geschenk an uns, seine Hörer, hinterlassen, um uns zu trösten und zu ermutigen, um uns an die hellen und warmen Aspekte des Lebens zu erinnern.

Die wahre Essenz der Musik, die unbestreitbare Quintessenz klanglicher Emotionen und gedanklicher Konstrukte, wurde uns an diesem Abend offenbart. Und doch schien es, als hätten viele Zuhörer, verstrickt in den Fäden ihrer eigenen Erwartungen und Verlangen, diesen kostbaren Juwel, der ihnen so unverhüllt dargeboten wurde, übersehen.

Es ist eine tiefe menschliche Ironie, dass wir, in unserem stetigen Streben nach Mehr, nach Veränderung und Erneuerung, oft die subtilen Wahrheiten und Schönheiten übersehen, die uns direkt vor Augen liegen. In unserem Bestreben, das Unbekannte und das Außergewöhnliche zu suchen, lassen wir uns allzu oft ablenken.

An diesem Abend, inmitten des mächtigen Flusses der Töne, der sich in den Händen von Nézet-Séguin und dem Chamber Orchestra of Europe zu einer tosenden Symphonie formte, wurde uns ein solcher Moment des Außergewöhnlichen, der in seiner Einfachheit und Reinheit zu außerordentlichem Glanz erhoben wurde, offenbart.

Die Essenz der Musik ist nicht in den spektakulären Crescendi oder in den dramatischen Fortissimo-Passagen zu finden, so elektrisierend diese auch sein mögen. Sie liegt vielmehr in den leisen Tönen, den sanften Harmonien und den einfachen Melodien, die, sorgfältig geformt und mit aufrichtiger Emotion gespielt, das Herz berühren und die Seele erheben. Sie ist das feine Gespinst, das uns mit anderen verbindet, das uns erlaubt, die Welt durch die Augen eines anderen zu sehen und die Gedanken und Gefühle von Generationen zu teilen, die längst vergangen sind.

Doch in der fiebrigen Aufregung, die die Forderungen nach einer Zugabe begleitete, schien diese Wahrheit verloren gegangen zu sein. In ihrem ungestillten Verlangen nach mehr, schienen einige Zuhörer die Kostbarkeit des Moments vergessen zu haben, die uns durch die einfache, aber ergreifende Melodie des Poco Allegretto geschenkt wurde.

Vielleicht ist dies das Tragische an unserer menschlichen Natur: dass wir oft das Wesentliche übersehen, während wir nach etwas suchen. Dass wir die leisen Töne in der Symphonie des Lebens überhören, während wir nach dem lautesten Crescendo Ausschau halten. Doch das Schöne an solchen Abenden wie diesem ist, dass sie uns daran erinnern, dass selbst inmitten der leidenschaftlichsten Verlangen und Erwartungen, die Musik stets die Fähigkeit besitzt, uns an die wesentlichen Wahrheiten des Lebens zu erinnern. Sie ist ein Spiegel, der uns unsere wahre Natur zeigt, und ein Fenster, das uns einen Blick auf das ewig Unbekannte gewährt. Sie ist der Leitstern, der uns auf unserer Suche nach Bedeutung führt, und der Schlüssel, der uns die Tore zu den Tiefen unseres eigenen Seins öffnet.

Autor:

Marko Cirkovic aus Durlach

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