Klangvolle Abgründe, Epiphanie der Extreme
Salome an der Wiener Staatsoper

- Foto: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
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Richard Strauss’ Oper Salome eröffnet einen Zugang zu einer Welt, die zugleich von schillernder Sinnlichkeit und unerbittlicher Abgründigkeit geprägt ist – ein Universum, das den Geist der Jahrhundertwende in all seiner widersprüchlichen Pracht einfängt. Die Uraufführung im Jahre 1905 in Dresden markierte einen Wendepunkt in der Kunstgeschichte, indem sie die konventionellen Grenzen des Theaters sprengte und eine kühne neue Ära der ästhetischen Expression einläutete. Dieses Werk, das auf Oscar Wildes ebenso provokant wie faszinierendem Drama basiert, stellt die tragische Geschichte einer Frau in den Mittelpunkt, deren geheimnisvolle Anziehungskraft und unheilvolle Verführungskraft das Schicksal aller Beteiligten in einen Strudel von Leidenschaft und Verderben zieht.
Im Zentrum der Erzählung steht Salome, eine Figur, die zugleich jugendliche Unschuld und sündhaft verführerische Verblendung verkörpert. Ihre Begegnung mit dem Propheten Jochanaan, dessen scharfzüngige Warnungen und düstere Prophezeiungen einen unvermeidlichen Untergang ankündigen, entfaltet sich in einem Spannungsfeld, das von unbändiger Emotion und existentiellem Konflikt durchdrungen ist. Der dramatische Höhepunkt – der legendäre Tanz der sieben Schleier – symbolisiert nicht nur den schrittweisen Verlust von Reinheit und Moral, sondern auch den triumphalen Moment, in dem sich das ungestüme Begehren in den grausamen Akt der Enthauptung manifestiert. Diese Szenen, die in einer Atmosphäre schier überirdischer Intensität inszeniert werden, veranschaulichen den stetigen Tanz zwischen Verführung und Abscheu, zwischen dem Lockruf des Schönen und dem unausweichlichen Schatten des Verderbens.
Die Bühne dieses opulenten Dramas ist zugleich ein Spiegel der kulturellen Umbrüche einer Epoche, in der gesellschaftliche Konventionen zunehmend ins Wanken gerieten und die Suche nach neuen Ausdrucksformen alle Bereiche des Lebens durchdrang. Salome entfaltet sich hier als ein vielschichtiges Epos, das mit seinen symbolischen Bildern und kraftvollen Figurenbildern einen tiefen Einblick in die Abgründe menschlicher Begierde und Selbstzerstörung gewährt. Es ist ein Werk, das den Betrachter in seinen Bann zieht und ihn zwingt, sich den Fragen nach Macht, Lust und dem unausweichlichen Fall der sterblichen Existenz zu stellen – ein meisterhaft inszeniertes Zeugnis einer radikalen, ästhetischen Revolution.
Als sich der Vorhang zur jüngsten Aufführung von „Salome“ an der Wiener Staatsoper hob, passierte magisches. Die Deutung, die Dirigent Yoel Gamzou dem Werk verlieh, reicht in ungeahnte Tiefen. In einem Ozean der Klänge, bei dem die Wogen von lyrischer Zartheit über gewaltiges Dröhnen bis hin zu beinahe eruptiver Brachialität reichten, zeigte sich eine Salome, wie man sie nur selten zu hören und zu spüren bekommt. Diese Aufführung öffnete Türen ins Innerste dieses Dramas. Dabei erschuf Gamzou ein regelrechtes akustisches Vexierbild, dessen Detailreichtum unbeschreiblich ist.
Noch nie habe ich erlebt, wie sich Strauss’ Partitur derart offenbaren kann, wie sich jede einzelne Wendung und jedes Motiv so klar herausschält, um sich zugleich in einem gewaltigen Gesamtstrom zu vereinen.
Es folgte, ein Rausch, eine Sinnenexplosion, die tief ins Unterbewusstsein führt. Gamzou dirigierte mit einer beinahe fanatischen Präzision, die jede Nuance auf die Spitze trieb, aber zugleich die großen Bögen in vollster Klarheit formte. Er stürzte sich in die Partitur, als wäre sie ein lebendiges Wesen. In seinem Dirigat lag ein tiefer Eifer – man möchte fast sagen, eine missionarische Glut, mit der er die Musikerinnen und Musiker befeuerte.
Das Orchester reagierte darauf mit einem Klang, der einem bisweilen den Atem raubte. Hier verschmolz lyrische Verführung mit brutaler Schroffheit, eine diaphane Zartheit mit schier apokalyptischem Dröhnen. Die Hörner schmetterten in einer Eindringlichkeit, die fast schmerzte, und doch entfaltete ihr Timbre eine unendliche Farbpalette. Die Holzbläser webten schillernde Ornamente, hauchten intime Geständnisse, bevor sie sich zuweilen in wüstem Aufbegehren vereinten. Die Streicher sangen und flirrten in abgründiger Schönheit, von zarter Empfindsamkeit bis hin zu wüster Ekstase. Und immer war es so, als würde ein riesiger musikalischer Ozean den Saal erfüllen, eine unaufhaltsame Flut, die das Publikum ergriff und in die Abgründe dieser Oper mitriss.
Man konnte regelrecht spüren, wie Dirigent und Orchester die Musik förmlich sezieren, um jeden verborgenen Nerv freizulegen. Nie zuvor war mir das Wissen um die leitmotivischen Verflechtungen, um die harmonischen Brüche und die psychologischen Hintergründe so präsent. Alles schien sich wie in einem kaleidoskopischen Prisma zu bündeln und wiederum auszudehnen. Hier strahlte die Musik in einer widersprüchlichen Schönheit, die von betörend bis bedrohlich reichte. Dieses Orchester, so geführt, war wie ein unaufhaltsamer Lavastrom – feurig, brennend, alles verschlingend und dennoch voller hypnotischer Anmut.
Exemplarisch für diese radikale, tiefschichtige Deutung kann man das Duett zwischen Salome und Jochanaan nennen. Es war, als würde die Welt in diesem Moment stillstehen, um den beiden Protagonisten im gleißenden Fokus zuzusehen und zuzuhören. Salomes vokale Linien – jugendlich, verführerisch, ambivalent – umspielten die düstere, unheilsschwangere Zeilen des Jochanaan. In dieser Wechselwirkung spürte man eine erlebbare Zuspitzung der Dramatik, die sich wie ein Sturm aufbaut, bevor er mit ungebremster Wucht losbricht.
Hier offenbarte sich die Feinheit dieser Interpretation besonders deutlich: Sobald Salome zum Wort ansetzte, begann das Orchester in samtenem Licht zu leuchten. Es war weich, fast liebkosend, und doch unter der Oberfläche von einer unterschwelligen Unruhe getrieben. Kaum hob Jochanaan an, färbte sich das Klangbild ins Dämmrige, ins Unheimliche, in dunkles Grollen. Und in dem Augenblick, in dem er Salome endgültig verfluchte, prasselte dieser Fluch wie greifbare Lava auf die Bühne herab. Man konnte das Knistern und Zischen fast körperlich empfinden.
Dann jener berühmte Tanz der Salome, den Gamzou zu einem Mahlstrom aus ekstatischer Rhythmik und psychischer Grenzerfahrung formte. Ich war fassungslos, wie diese Musik steigerungsfähig bleiben konnte, ohne in Chaos zu verfallen. Schicht um Schicht ließ das Orchester die Spannungen wachsen, die Blicke im Publikum waren wie gebannt auf diese Szene gerichtet. Das war Intensität in beinahe reiner Form, ein beinahe orgiastischer Tanz, in dem sich Salomes Verlangen, ihre Obsession und ihr gefährliches Spiel mit Herodes’ Gier vermischten.
An diesem Punkt war der Wahnsinn fast greifbar. Man spürte die Schwelle, an der Salome vom lieblich-verführerischen Mädchen zur entfesselten Furie wird. In jeder Phrase lag ein Echo ihres nahenden Untergangs, und doch besaß das Ganze eine rätselhafte, unverschämte Schönheit. Die Musik war wie ein rebellischer Herzschlag, der zugleich lockt und vor den Abgründen warnt. Bis zum finalen Höhepunkt war das eine Grenzerfahrung – ein rauschhaftes, beinahe tosendes Klanginferno.
Doch all das wurde im Finale noch übertroffen. Hier bündelte Gamzou nochmals die gesamten Kräfte des Orchesters. Und mit welcher Hingabe das passierte, ist kaum in Worte zu fassen. Kein Moment wirkte übertrieben oder sinnlos grell. Alles folgte einer inneren Logik, einer unaufhaltsamen Bewegung auf den wahnhaften Schluss zu. Die Motive, die Strauss in diesem Werk verwebt, erschienen in einer Dichte, die man nur als Offenbarung bezeichnen kann.
Dieses Finale sog in sich hinein. Das Verlöschen der Vernunft und der moralischen Hemmungen, das Erbeben der göttlichen Ordnung, Salomes beispielloser Triumph inmitten des Grauens: All das wurde zur klanglichen Wirklichkeit. Ich bin sicher, dass viele im Zuschauerraum ähnlich atemlos und erschüttert waren wie ich. Es war ein Moment, in dem Musik, Darsteller und Regie zu einer gewaltigen Summe verschmolzen. Und so setzt diese Interpretation wahrlich neue Maßstäbe.
Nach dieser Lobeshymne auf den musikalischen Aspekt fällt es nicht leicht, zur Inszenierung von Cyrill Teste überzugehen, ohne den beinahe überwältigenden Eindruck der Musik fortzuführen. Doch genau hier liegt das Problem: Testes Personenführung entpuppte sich über weite Strecken als überraschend belanglos. Immer wieder wirkte es, als könnten die Sängerinnen und Sänger ihren Rollen vor allem dank ihrer eigenen Bühnenpräsenz Leben einhauchen. Die Regie ließ oft jene psychische Tiefe vermissen, die so essentiell für diese Oper wäre.
Auch die Video-Live-Technik, die durchaus beeindruckend präsentiert wurde, blieb hinter ihrem inhaltlichen Potenzial zurück. Sie wirkte mehr wie ein visuelles Gimmick, das zwar ästhetisch etwas hergab, aber den dramaturgischen Kern des Stücks nicht wirklich erhellte. Die Projektionen erschienen elegant und hochauflösend, konnten jedoch die Bedeutung der inneren Konflikte, die Strauss’ Musik so eindringlich aufzeigt, nicht adäquat spiegeln.
Positiv hervorheben möchte ich allerdings den Tanz der Salome: Dieser war ein seltenes Aufblitzen von (Video-) choreografischer Meisterschaft, ein Moment, in dem Testes Regie sich bündelte und eine sinnlich-bedrohliche Energie auf die Bühne zauberte, die im Publikum spürbar knisterte. Gleiches gilt für das rot getauchte Schlussbild: Hier fand die Inszenierung zu einer stimmigen, beinahe alptraumhaften Atmosphäre, die sehr eindrucksvoll war.
In die Titelrolle schlüpfte Jennifer Holloway, die einen sehr überzeugenden und komplexen Zugang zur Figur präsentierte. Schon in den ersten Takten ihrer Partie spürte man ihre Bühnenpräsenz. Sie betonte einerseits die jugendliche und verspielte Seite der Salome, ließ aber die verdorbene Note und den allmählichen Übergang in den absoluten Wahnsinn niemals aus den Augen. Das war ein schmaler Grat, den sie bemerkenswert sicher beschritt.
Ihr Sopran klang zunächst mit einer poetischen Klarheit und Reinheit, die jeden Zuhörer umgehend in Salomes Bann zog. In den Szenen mit Jochanaan offenbarte sie dann ihre Vielschichtigkeit: Verführung, Gier, Zorn und eine fast naive Unbedingtheit klangen wie Facetten einer zerbrechlichen, dabei jedoch hochgefährlichen Persönlichkeit. Zum Finale hin steigerte sie sich in ein vokales und szenisches Furioso, das eine glasklare Linie bewahrte und zugleich unerhörte emotionale Kraft entfaltete.
Tomasz Konieczny verkörperte den Propheten Jochanaan mit einer klaren, kraftvollen Stimme. Seine Aussprache wirkte unglaublich klar, sodass jedes Wort im Gesang verständlich blieb. Diese Klarheit verlieh seiner Figur eine Aura von Autorität und Unbezwingbarkeit. Die stimmliche Anlage ließ sofort das biblische Erzittern spüren, das von Jochanaan ausgeht.
Beeindruckend war vor allem, wie er die unbedingte Verweigerung gegenüber Salome darstellte. Dennoch fehlte im Ganzen ein letzter Funken der lodernden Verabscheuung. Nichtsdestotrotz war es eine beeindruckende Leistung, die den prophezeihenden Fluch musikalisch nachdrücklich stützte.
Auch Jörg Schneider vermochte als Herodes im Verlauf des Abends zu überzeugen, vor allem durch die Schönheit seiner Stimme, die eine gewisse Opulenz verströmte, und ein engagiertes Spiel. Anfangs wirkte sein Herodes allerdings noch etwas glatt und wenig seelisch zerrissen. Erst gegen Ende, als sich das Chaos zuspitzt und er sich der Monströsität seiner Wünsche bewusst wird, gelang es ihm, die emotionale Tiefe und Widersprüchlichkeit dieser Figur deutlicher hervorzubringen. Dann aber brach sein Herodes mit machtvollem Ausdruck hervor und ließ das Publikum in seine Abgründe blicken.
Hiroshi Amako fügte sich mit stimmschöner und technisch feiner Tenorstimme gut in das Ensemble ein. Auch sein emotionaler Ausdruck wirkte nachvollziehbar und berührend, nur war seine Projektion an manchen Stellen problematisch. In Reihe 12 des Parketts war er nicht durchgehend klar vernehmbar, was vermutlich an der Bühnenakustik lag.
Stephanie Houtzeel als Herodias präsentierte eine solide Leistung. Kraftvoll und prägnant in ihrem Auftreten, gab sie dieser Figur den richtigen Schuss an Arroganz und Boshaftigkeit, ohne jedoch zu überzeichnen. Man merkte ihr die Erfahrung an, mit der sie die Szene gestaltet und sich dabei dennoch ins Gesamtgefüge einfügt.
Der Rest des Ensembles fügte sich ebenso nahtlos in das Gesamtbild ein und zeigte durchweg ein hohes Niveau. So überzeugte der Page, verkörpert von Alma Neuhaus, mit einem warmen, teils sehnsuchtsvollen Timbre. Die Gruppe der Juden – Erster Jude (Wolfram Igor Derntl), Zweiter Jude (Michael Porter), Dritter Jude (Devin Eatmon), Vierter Jude (Andrew Turner) und Fünfter Jude (Dan Paul Dumitrescu) – präsentierte sich stimmlich und szenisch facettenreich und verlieh dem Werk die notwendige, teils groteske Komponente. Auch setzten Erster Nazarener (Clemens Unterreiner) und Zweiter Nazarener (Jusung Gabriel Park) mit kluger Artikulation deutliche Akzente, während Erster Soldat (Ivo Stanchev) und Zweiter Soldat (Simonas Strazdas) die notwendige Wucht und Strenge in ihre Rollen brachten. Der Sklave, gespielt von Thomas Köber, war zwar nur in wenigen Momenten prägnant zu sehen, fügte sich jedoch reibungslos ins Geschehen ein. All diese Darbietungen trugen dazu bei, ein stimmiges, wenn auch visuell nicht immer spannendes Bühnenbild mit Leben zu füllen und das gesamte Geschehen voranzutreiben.
Am Ende bleibt vor allem diese gewaltige Wucht, mit der die Musik unter der Leitung Yoel Gamzous ihren radikalen Weg in die Seelen des Publikums gefunden hat. Noch einmal sei es betont: Das Orchester der Wiener Staatsoper zeigte an diesem Abend eine Hingabe und Präzision, die selbst die hohen Erwartungen an dieses Haus übertraf. In der radikalen Ausleuchtung der Partitur, in der restlosen Ergründung ihrer Motive und Feinheiten, setzte diese Aufführung Maßstäbe.
Und so verlässt man nach rund hundert Minuten dieses hochemotionalen Abends das Haus mit dem Gefühl, den Kern des Werkes gesehen, gehört und vor allem empfunden zu haben. Die dichte Arbeit an den Motiven, die lodernde Intensität jedes Taktes – all das verschmilzt zu einem Erlebnis, das sich in die Opernbiografie eines jeden Liebhabers dauerhaft einbrennen dürfte. Hier fand ein Eintauchen in die psychologischen Abgründe statt, das zugleich den ganzen Reichtum der Partitur bis in den letzten Winkel ausleuchtete. Nichts blieb unausgesprochen, nichts wurde verschleiert.
In musikalischer Hinsicht hat diese Salome an der Wiener Staatsoper neue Horizonte eröffnet und eine ungeahnte Totalität des Erlebens geboten. Wer jemals an der Kraft von Strauss’ Oper gezweifelt haben sollte, wurde in diesem Rausch eines Besseren belehrt. Eine Aufführung, wie sie nur selten gelingt, in der sich die unbändige Energie und die bis ins Letzte getriebene Expressivität auf radikal positive Weise manifestieren. Selbst wenn man bei der szenischen Umsetzung, abgesehen von wenigen intensiven Momenten, das Gefühl hatte, hier wäre mehr möglich gewesen, bleibt ein insgesamt gewaltiger Eindruck. Denn im Gedächtnis hallt vor allem jenes Orchester nach, das wie ein glühender Krater brodelte, das einen musikalischen Sturm entfachte, dem man sich nicht entziehen konnte.
Autor:
Marko Cirkovic
aus Durlach
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