Klangmagie im Festspielhaus Baden-Baden
Pappano entfacht Berlioz’ Feuer und Boulez’ kristallene Stille

- Foto: Michael Gregonowits
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Am Abend des 6. Juni 2025 verband Sir Antonio Pappano im Festspielhaus Baden-Baden erstmals als neuer Chefdirigent des London Symphony Orchestra zwei künstlerische Freigeister: den romantischen Feuerkopf Hector Berlioz und den Jahrhundert-Modernisten Pierre Boulez, dessen 100. Geburtstag über dem Programm schwebte. Pappano, berühmt für minutiöse Probenarbeit bei zugleich glühender Musikalität, ließ die Gegensätze beider Komponisten nicht aufeinanderprallen, sondern in irisierenden Übergängen ineinander übergehen – ein Dialog zwischen Fantasie und kalkulierter Abstraktion, zwischen eruptiver Leidenschaft und asketischer Klangforschung.
Gleich zu Beginn hoben die ersten Peitschenhiebe der Pauke Berlioz’ Ouvertüre »Le Corsaire« aus den Sitzen: rasante Streicherläufe, funkelnde Blechbläser, alles messerscharf, doch nirgends bloß lärmend. Pappano modellierte selbst den wildesten Tumult so, dass warm atmende Zwischenspiele aufleuchten konnten; gerade in dieser zarten tendresse der Holzbläser zeigte sich seine Kunst, Energie und Lyrik unauflöslich zu verschränken. Als das Finale wie ein sprühendes Feuerwerk entlud, blieb jede Stimme vernehmbar, das Drängen kontrolliert und doch elektrisierend.
Danach zog Boulez’ »Mémoriale« den großen Saal in schwebende Stille zurück. Acht Musiker und eine Soloflöte hauchten ein Gewebe aus fast körperlosen Klangpartikeln in den Raum: gehauchte Bläserakkorde, flirrende Streicherflageoletts, ein verhaltener Flötenruf, der auftaucht und sogleich wieder verglimmt. Pappano hielt die Spannkraft dieses Miniatur-Requiems in hermetischer Disziplin; jeder dynamische Hauch war wertvoll, jedes Entstehen und Vergehen erhielt fast zeremonielle Bedeutung.
Danach erwuchs daraus das nur aus Streichern gebaute »Livre pour cordes«: ein Klangorganismus von pointillistischer Feinheit, den Boulez über Jahrzehnte immer weiter verfeinerte. Der Anfang war kaum mehr als ein gemeinsamer Atem; aus Schweigen sprossen mikroskopische Tremoli und Flüstertöne, die sich zu dichten, sofort wieder zerfallenden Klangballungen verdichteten. Das LSO, virtuos in zeitgenössischer Literatur, spielte mit klinischer Präzision und gleichwohl organischer Wärme; Pappano dirigierte fast unsichtbar, als entstünde die Musik aus dem Innern der Instrumente selbst. Als der letzte Ton ins Nichts wehte, hielt ein fast heiliges Schweigen den Saal gefangen.
Nach der Pause entfaltete Berlioz’ »Symphonie fantastique« ihre fantastische Vision in fünf Akten. Im ersten Satz legte Pappano eine verletzliche Intimität frei: Die Idée fixe erhob sich wie ein scheues Geständnis, während die orchestralen Ausbrüche zugleich lodernd und gläsern transparent blieben. Der Ball-Walzer tanzte mit perlender Eleganz, frei von Sentimentalität, von Harfen-Glitzern und schlank artikulierten Holzbläserarabesken unaufdringlich illuminiert. In der Pastoralszene stiftete eine hymnische Englischhorn-Melodie über hauchdünnem Streicherteppich tiefen Frieden, den ein ferngerollter Paukenschlag unheilvoll überschattete. Der »Gang zum Richtplatz« marschierte unerbittlich, doch nüchtern, bis das Idée-fixe-Fragment sein Haupt im letzten Moment hob – ein Lichtstrahl, den der hämmernde Schlussakkord gnadenlos auslöschte. Im Hexensabbat schließlich ließ Pappano Chaos und Ordnung in perfekter Balance tanzen: Dies-Irae-Gewitter, col-legno-Knattern, Es-Klarinetten-Spott – alles tobte in infernalischer Farbenpracht, doch die Form blieb unerschütterlich; die finale Klang-Explosion traf wie ein gleißender Blitz, bevor ekstatischer Jubel losbrach.
So schloss sich der Kreis zwischen der glühenden Imagination Berlioz’ und Boulez’ kristalliner Reflexion: Pappano zeigte, dass beide Extreme derselben Sehnsucht nach radikaler Freiheit entspringen. Unter seiner inspirierten, detailbesessenen Leitung verschmolz die technische Souveränität des LSO mit poetischer Leidenschaft zu einem Klangereignis von seltener Geschlossenheit. Für ein paar Stunden war Musik tatsächlich die freiste aller Künste – mächtig, lebendig und grenzenlos.
Autor:Marko Cirkovic aus Durlach |
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