Vertrag wider jede Vernunft
François-Xavier Roth - Dirigent im Zwielicht

Foto: Marko Cirkovic

Wenn der Taktstock eines neuen Chefdirigenten im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle fällt, erschüttert nicht allein der Klangkörper, sondern mitunter das moralische Gemäuer des Betriebs. So verhält es sich bei François-Xavier Roth, dessen Amtsantritt beim SWR-Symphonieorchester eine eigentümliche Mischung aus künstlerischer Erwartung und sittlicher Irritation hervorruft. Der Glanz der Podesterfolge, die sich von Stravinskys Opfer-Riten bis zu Schuberts himmlischer Länge spannen, trifft auf den Schatten hartnäckiger Vorwürfe der sexuellen Grenzüberschreitung, die seit Mai 2024 den öffentlichen Diskurs bestimmen. Dass ein Drittel der Orchestermitglieder dem Sender in einem offenen Schreiben ihre Fassungslosigkeit bekundete und dennoch auf taubes Management-Ohr stieß, belegt die Spannung, in die sich alle Beteiligten verstrickt haben: Kunstliebe gegen Institutionenlogik, Vergebung gegen Prävention, kurzfristige Programm-Glorie gegen langfristige Vertrauensökonomie.

Roth selbst antwortet auf das moralische Erdbeben mit einer Formel radikaler Selbstauslegung. Im Interview mit der Stuttgarter Zeitung erklärt er nüchtern, nach intensiver Beratung seine Fehler seziert, seinen Führungsbegriff neu justiert zu haben, und resümiert den Prozess mit dem Satz: „Ich denke, ich bin heute ein anderer Mensch und ein anderer Dirigent.“ Dabei legt er glaubhaft Reue und Zukunftsenergie nebeneinander, entschuldigt sich vor versammeltem Orchester und verspricht individuelle Gespräche, um jenes Vertrauen aufzubauen, das ein Ensemble nicht allein durch Virtuosität gewinnt.

Doch das Bekenntnis zur Wandlung klingt im Diskurs rasch wie eine semantische Abkürzung, als ließe sich Identität wie ein Notenpult verschieben. Langzeitstudien der Persönlichkeitsforschung weisen zwar nach, dass sich Dimensionen wie Verträglichkeit oder Gewissenhaftigkeit auch jenseits der Lebensmitte modifizieren können, doch verlaufen solche Prozesse graduell und unterliegen Rückfällen; neuronale Plastizität gewährt Möglichkeiten, sie garantiert keine palingenetische Verwandlung. Wer deshalb behauptet, ein völlig Anderer geworden zu sein, verschleiert oft die Kontinuitäten, aus denen die beanstandeten Handlungen einst hervorgingen – Kontinuitäten von habituellem Machtgebrauch, von situativer Enthemmung, von hierarchischer Immunisierung innerhalb des Kulturbetriebs.

Ebendiese strukturellen Kontinuitäten dämpfen die Hoffnung auf einen schnellen moralischen Reset. Die Fähigkeit, infame Nachrichten zu versenden, entsteht nicht spontan; sie wurzelt in Einstellungen, die sich über Jahre sedimentiert haben. Auch die institutionelle Entscheidung des SWR, trotz der Anwürfe an Roth festzuhalten, verweist weniger auf verinnerlichte Reue als auf eine Kalkulation, die künstlerischen Mehrwert gegen Reputationsrisiko verrechnet – und auf Regularien setzt, die künftiges Fehlverhalten lediglich sanktionieren, nicht verhindern.

Die Gegenposition zur öffentlichen Erlösungs-Rhetorik lautet darum: Ja, Menschen ändern sich, doch die Dauer solcher Umformung bemisst sich nicht in zwölf Monaten medialer Stille, sondern in langwieriger Selbstaufsicht, deren Resultate durch soziale Resonanz überprüft werden müssen. Wer ernsthaft Transformation reklamiert, müsste ihre Zwischenstände offenlegen, sich begleitender Supervision aussetzen und also riskieren, dass die Kunstkritik nicht nur Partituren, sondern Bewältigungsprotokolle liest. Vor diesem Hintergrund wirkt Roths Behauptung, bereits heute ein anderer zu sein, wie eine vorschnelle Kadenz, die den obligaten Nachsatz des Zweifels unterdrückt.

Gleichwohl darf die Analyse nicht im Moralischen verharren. Ein Dirigent verkörpert Macht nicht bloß sozial, sondern klanglich: durch interpretatorische Überformung des Orchestertimbres. Roth galt, nicht zu Unrecht, als genuiner Vermittler zwischen historisch informierter Aufführungspraxis und zeitgenössischer Avantgarde; seine Lesarten von Berios Sinfonia oder Boulez’ Notations lösten Faszination aus, weil sie strukturelle Präzision mit eruptiver Imagination verbanden. Indes geriet in manchen Aufführungen eine Tendenz zur selbstbewussten Überzeichnung hörbar, die zwischen Partiturtreue und Dirigentenego balancierte. Jene interpretatorische Hybris findet ihr Pendant in den Anwürfen des Machtmissbrauchs: Sie entspringt demselben Impuls, der künstlerische Autorität ohne hinreichende Selbstkorrektur exerziert.

Die Fakten sind klar: Köln hat den Vertrag mit Roth als Gürzenich-Kapellmeister in aller Form aufgelöst(im Einvernehmen) , sobald die Vorwürfe sexualisierter Grenzüberschreitungen klar wurden; der Sender in Baden-Baden hingegen klammert sich an denselben Mann, als stünde nicht der Ruf eines gesamten öffentlich-rechtlichen Kulturauftrags auf dem Spiel. Dass eine Staatsanwaltschaft mangels Beweisen von strafrechtlicher Verfolgung absieht, hebt keinerlei moralische Verpflichtung auf – zumal die interne SWR-Untersuchung nur jene Minimalstandards erfüllte, die das Arbeitsrecht vorgibt, während das Orchester in Teilen erschüttert blieb.

Doch der SWR beschwört unbeirrt das Mantra der „Rehabilitation“ und verkennt dabei einen einfachen Grundsatz der ethischen Ökonomie: Reue ist keine Aktie, die man an der Börse der öffentlichen Meinung blitzschnell wieder gewinnbringend veräußern kann. Wer den Prozess echter Verhaltenskorrektur ernst nimmt, muss ihn transparent, langfristig und unter öffentlicher Aufsicht gestalten. Stattdessen offeriert der Sender ein Arrangement, das jedes Warnsignal zur stilistischen Randnotiz herabstuft.

Die Verteidiger Roths insistieren, es handle sich um eine „zweite Chance“ für einen Künstler von Weltrang. Doch Chancen verliert, wer sie vorschnell vergibt. Wenn Machtgefälle und geschlossene Strukturen das Fehlverhalten erst ermöglichten, dann fordert Gerechtigkeit keinen halbherzigen Verhaltenskodex, sondern eine institutionelle Konversion: eine Abkehr vom reflexhaften Loyalismus hin zu einer Kultur aktiver Verantwortung. Diese Konversion kann nur beginnen, wenn die falsche Personalentscheidung annulliert wird. Der Vertrag mit Roth ist kein Naturgesetz, sondern ein reversibles Verwaltungsaktum – sein Fortbestand gleicht einem gesellschaftlichen Offenbarungseid.

Darum darf der Diskurs nicht länger in konzertantem Abstraktionsrausch verharren. Wer der Idee der Kunst dienen will, muss die Bedingungen schützen, unter denen sie glaubwürdig erklingen kann. Ein Orchester, das sich Klangschönheit verordnet, während es moralisch dissonant bleibt, instrumentalisiert seine Hörerinnen und Hörer. Die einzig konsistente Schlussfolgerung lautet daher: Die Bestellung François-Xavier Roths zum Chefdirigenten des SWR-Symphonieorchesters ist rückstandslos zu widerrufen. Alles andere wäre nichts als ein ohrenbetäubendes Fortissimo institutioneller Selbstgefälligkeit – laut genug, um jede noch so leise Bitte nach Gerechtigkeit zu übertönen.

Autor:

Marko Cirkovic aus Durlach

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