Funkelndes Spektakel und intimes Seelendrama
Don Carlo an der Bayerischen Staatsoper München

Foto: Geoffroy Schied

Trotz eines großen Dirigentenwechsels – für den erkrankten Zubin Mehta übernahm Ivan Repušić den Taktstock – geriet Verdis Don Carlo an der Bayerischen Staatsoper am 17. Mai 2025 zu einem großen Opernabend. Repušić formte die selten in vollständiger Fünfakt-Fassung (der Modena-Version von 1886 , inklusive der sonst oft gestrichenen „Lacrimosa“-Passage ) gespielte Oper in einen packenden musikalischen Thriller. Vom Orchestergraben bis zur Bühne schien alles elektrisiert: Das Bayerische Staatsorchester zeigte sich in absoluter Höchstform – präzise, klangmächtig und doch voller italienischer Wärme. Repušić hielt Ensemble, Chor und Orchester diszipliniert zusammen und entfachte einen furiosen Spannungsbogen, der die fast viereinhalbstündige Aufführung wie im Flug vergehen ließ. Dabei gelang ihm eine aufregende Balance aus Detail und Drama: Mit leidenschaftlichem, feinnuanciertem Zugriff ließ er Verdis Partitur leuchten und dämmern, atmen und explodieren. Jeder Szenenwechsel wurde zum musikalischen Stimmungsumschwung – von den melancholischen Holzbläser-Seufzern im Fontainebleau-Akt bis zum schicksalsschwangeren Blechbläserdröhnen des Inquisitionsthemas. Unter seiner Leitung geriet die berühmte große Fuge des Chors beim Autodafé ebenso mitreißend wie die intimsten Kammermusik-Momente, etwa wenn ein Solo-Cello zu Beginn von Philipps Klagearie sanft und schwermütig aus dem Orchesterboden emporstieg . Der Chor der Bayerischen Staatsoper – verstärkt durch den Extrachor – fügte sich nahtlos in diese Klanggewalt ein: Homogen und textverständlich, gleichermaßen flexibel in leisen Gebeten wie überwältigend in den Massenszenen, trug er entscheidend zur monumentalen Wirkung des Abends bei.

Jürgen Roses Inszenierung – einst 2000 herausgebracht und mittlerweile selbst ein Stück Operngeschichte – präsentiert sich bewusst werktreu und konzentriert, ohne modische Regie-Einfälle, doch voller hintergründiger Symbolik. Die Bühne, die Rose zugleich mit Kostümen und Licht konzipiert hat, besteht aus einem kargen, geschlossenen Raum in tiefem Schwarz, beherrscht von einer monumentalen Kruzifix-Statue . Dieser klaustrophobische Einheitsraum bleibt während der gesamten fünf Akte bestehen und schafft eine beklemmende, fast klösterliche Intimität – ein Kammerspiel-Kasten, in dem die Figuren wie in einem Gefängnis ihrer eigenen Schicksale gefangen sind. Die wenigen Requisiten (ein Bett hier, ein Schreibtisch dort) verändern daran nichts; selbst die Ortswechsel – ob Wald von Fontainebleau, Garten der Königin oder Königsgemach – werden durch Roses unverrückbare schwarze Wände zu Stationen desselben alptraumhaften Kosmos. Diese ästhetische Strenge zahlt sich aus: Sie lenkt den Fokus ganz auf die Sänger und die Musik und verdichtet die Handlung zu einem intensiven Kammerspiel über Macht und Ohnmacht. Wenn dann doch eine Veränderung eintritt, hat sie umso größere Wirkung: So öffnet sich zur Autodafé-Szene der bis dahin hermetisch geschlossene Raum und gibt den Blick frei auf ein grandioses Spektakel . Plötzlich fluten Farben und Massen die Bühne, als stünde ein barockes Historiengemälde lebendig vor dem Publikum. Purpurgewandete Geistliche, ein flammenroter Königsbaldachin, goldene Engelsfiguren und blumengeschmückte Statuen ziehen auf – ein prunkvoller Schauder, der die Augen blendet. Doch gerade diese einzigartige Farbexplosion macht den Schrecken fühlbar: Im grellen Licht sieht man die gefangenen Ketzer, entblößt und blutverschmiert, die stöhnend ihrer Verbrennung entgegensehen . Rose changiert meisterhaft zwischen solch überwältigender Bildgewalt und zutiefst intimen Momenten: Etwa wenn nach dem Autodafé im dunklen Verlies zwei Menschen allein zurückbleiben – Don Carlo und sein sterbender Freund Rodrigo – und ringsum nur noch der kalte Stein und das starre Kreuz als Zeugen ihrer verzweifelten Menschlichkeit verweilen. Unterstützt von Michael Bauers klugem Lichtkonzept entstehen immer wieder eindringliche Bilder: Mal taucht ein fahles Mondlicht die Szene in nächtliche Melancholie, mal schneiden harte Hell-Dunkel-Kontraste scharfe Silhouetten in den Raum, als wären die Figuren bereits Schatten ihrer selbst. Die historischen Kostüme (spanische Hoftrachten in Schwarz und Grau, nur im ersten Akt noch höfische Jagdkleidung in gedeckten Waldtönen) unterstreichen den düsteren Gesamtcharakter und lassen die Menschen fast mit der schwarzen Umgebung verschmelzen. So entsteht ein einheitlicher, albtraumhafter Bilderstrom, der die Dunkelheit und Brutalität dieser Oper – Verdis wohl schwärzester – eindrucksvoll fühlbar macht. Und doch wohnt Roses klassischer Inszenierung eine stille Poesie inne: Inmitten der Finsternis glimmen kleine Flammen der Hoffnung – eine weiße Lilie hier, ein roter Schleier dort – und verweisen darauf, dass die Sehnsucht nach Liebe und Freiheit selbst in der düstersten Welt nicht ganz erlischt.

Auf dieser szenischen und musikalischen Grundlage konnte das Solistenensemble sein Können entfalten. Allen voran gelang es Stephen Costello in der Titelpartie, nach anfänglichen Unsicherheiten zu überzeugen. Gleich zu Beginn verlangt Verdi dem Tenor mit „Io la vidi“ eine Höhe ab, die Costellos Stimme zunächst etwas angespannt klingen ließ. Doch im Verlauf fand er zu beeindruckender Form: Mit schlankem, lyrischem Tenor, der bei Bedarf auch metallisch aufleuchten konnte, zeichnete Costello einen Don Carlo, der seine innere Zerrissenheit glaubhaft vermittelte. Sein Schmerz über die verlorene Liebe und sein Aufbegehren gegen die übermächtige Obrigkeit waren in jeder Phrase zu spüren. Emotional packend und mit großem Durchhaltevermögen steigerte er sich bis zum Finale, in dem er – vom Schicksal gezeichnet, aber unbeugsam – den letzten Funken Hoffnung auf Freiheit in die Höhe hält. An Costellos Seite stand George Petean als Marquis von Posa. Mit warm strömendem Bariton und nobler Phrasierung verkörperte Petean den idealistischen Freund Don Carlos mit berührender Intensität. In den berühmten Freundschaftsduetten harmonierten die beiden Stimmen prächtig und symbolisierten die unerschütterliche Bündnistreue der beiden jungen Männer. Peteans Darstellung gab dem Rodrigo eine gravitätische Würde und doch menschliche Wärme; sein todgeweihter Idealismus wurde zum moralischen Kern der Aufführung. Besonders Rodrigos Sterbeszene im vierten Akt geriet unter Peteans Gestaltung zu einem Höhepunkt des Abends: In einem Moment berührend-poetischer Ruhe schien die Zeit stillzustehen, als der Sterbende seinem Freund die Freiheit Flanderns und sein eigenes Lebensopfer in die Hände legt. Petean sang diese Passage mit ergreifender Schlichtheit und sanftem Ton, was vielen im Publikum den sprichwörtlichen Kloß im Hals bescherte.

Dem tragischen Heldenpaar Don Carlo und Posa stand ein nicht minder eindrucksvolles weibliches Protagonistenduo gegenüber. Rachel Willis-Sørensen gab eine majestätische Elisabeth von Valois, deren Auftritt von dramatischer Größe und großer vokaler Strahlkraft geprägt war. Ihr opulenter Sopran füllte den Raum mit Leichtigkeit und vereinte Höhe, Volumen und Wärme zu einem klangschönen Ganzen. Anfangs hielt sie Elisabeth als junge französische Prinzessin noch betont königlich-distanziert, doch im Verlauf des Abends zeigte Willis-Sørensen immer mehr Facetten innerer Zerrissenheit: die stille Verzweiflung einer Frau, die zwischen Staatsräson und gebrochenem Herzen aufgerieben wird. Ihre souveräne Klangweite, die samtig-metallischen Bögen, ließen zuweilen die fragile Seidigkeit vermissen, die das Libretto verheißt – doch wenn die Königin im vierten Akt das Szepter innerlich zerbricht, verdichtete Willis-Sørensen die Szene zu einem vokalen Bekenntnis voller ernüchternder Größe.

Einen spannenden Kontrast zu dieser Königinnengestalt bot die Figur der Prinzessin Eboli, die hier von Yulia Matochkina verkörpert wurde. Matochkina sprang kurzfristig für die ursprünglich vorgesehene Ekaterina Semenchuk ein und erwies sich als wahrer Glücksfall für die Partie. Ihr Mezzo besitzt sowohl glutvolle Tiefe als auch leuchtende Höhe – eine stimmliche Pracht, die sie mit hervorragender Technik und musikalischer Intelligenz einzusetzen wusste.

Erwin Schrott stattete Philipp II. mit souveränem Timbre und unaufdringlicher Würde aus, scheiterte indes in der großen Arie des 4. Aktes an einer kalkulierten Zerbrechlichkeit, die sein ansonsten monarchisches Atemmaß sprengte; das Experiment, Tempo zu zerlegen und neue Spannungsplateaus aufzubauen, gebar eindringliche Momente, zerschellte jedoch an der Wucht der Szene selbst. Dmitry Belosselskiy ließ als Großinquisitor eine tonale Finsternis emporsteigen, deren Wellen selbst den Herrscher erzittern machten – eine vokale Gravitation, der sich niemand entzog.

Nicht unerwähnt bleiben dürfen die zahlreichen kleineren Rollen, die an diesem Abend durchweg luxuriös und solide besetzt waren. Vom geheimnisvoll raunenden Mönch (Roman Chabaranok), der im Hintergrund als unheimliches Alter Ego Karl V. durchs Geschehen geistert, über die Höflinge wie Tebaldo (Elene Gvritishvili) und den Graf von Lerma (Samuel Stopford) bis hin zu den sechs Flämischen Abgeordneten (Andrew Hamilton, Christian Rieger, Nikita Volkov, Daniel Noyola, Yosif Slavov und Mark Kurmanbayev) – sie alle fügten sich homogen ins Ensemble ein und erfüllten ihre Aufgaben mit Bravour. Selbst die Himmelsstimme (Carine Tinney), die in der Kerkerszene des fünften Aktes als überirdischer Sopran erklang, schwebte klar und silbrig über dem Geschehen und rundete das klangliche Gefüge eindrucksvoll ab.

Am Ende dieses langen, ereignisreichen Abends standen nicht jubelndes Triumphgeheul oder vordergründiger Effekt, sondern etwas viel Tiefgreifenderes: eine nahezu andächtige Ergriffenheit. Als Don Carlo im Schlussbild von der geheimnisvollen Mönchsgestalt – dem Schatten seines Großvaters Kaiser Karl V. – in die Dunkelheit des Klosters gezogen wurde und die Macht der weltlichen wie geistlichen Herrscher ins Leere lief. Diese Inszenierung von Jürgen Rose, getragen von einem starken musikalischen Team, hatte es verstanden, Verdis vielschichtiges Meisterwerk lebendig werden zu lassen: als funkelndes Spektakel und intimes Seelendrama zugleich. Die Aufführung changierte virtuos zwischen pompösem Schaustück und seelentiefer Erzählkunst, ohne je die menschlichen Fragen aus dem Blick zu verlieren, die Don Carlo aufwirft – Fragen nach Freiheit und Unterdrückung, Liebe und Verzicht, weltlicher Macht und göttlichem Gericht. So hallte der philosophische Unterton dieses Opernklassikers noch lange nach, und man verließ das Nationaltheater mit dem Gefühl, etwas wahrhaft Großes erlebt zu haben: Musiktheater, das gleichzeitig die Sinne überwältigt und die Seele nachdenklich stimmt.

Autor:

Marko Cirkovic aus Durlach

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