Licht und Schatten einer musikalischen Offenbarung
Yannick Nézet-Séguin in Baden-Baden

- Foto: Michael Gregonowits.
- hochgeladen von Marko Cirkovic
Schon im ersten Augenblick dieses Sommerabends im Festspielhaus Baden-Baden war zu spüren, dass etwas Außergewöhnliches bevorstand. Die Jupiter-Sinfonie in C-Dur (KV 551), mit der das Chamber Orchestra of Europe unter Yannick Nézet-Séguin das letzte Konzert der Sommerfestspiele eröffnete, entfaltete von den ersten Takten an ein funkelndes Klangfeuerwerk. Mit einem strahlenden Auftakt – „Her mit den Pauken und Trompeten!“, könnte man ausrufen – zog Mozart uns in eine Welt voller heiterer Brillanz . Das Allegro vivace des ersten Satzes geriet fröhlich verspielt, ja nahezu ausgelassen, und zugleich spannte Nézet-Séguin einen Bogen gewaltiger Energie. Der Dirigent tanzte förmlich auf dem Podium zu Mozarts Rhythmus, jeden Akzent mit dem Körper mitnehmend – ein Anblick, der die unbändige Freude widerspiegelte, die er und sein Orchester an der Musik hatten. In diesen festlichen Klangkaskaden blitzten immer wieder dramatische Momente auf, in denen Mozart kurz innehält, bevor sich die Ekstase umso leidenschaftlicher fortsetzt. Diese kontrastierenden Brüche – feierlich und doch voller Spannung – wurden vom Dirigenten im Taumel des Augenblicks mitgerissen und nahtlos in die ekstatische Gesamtstimmung integriert. Es war, als würde Nézet-Séguin Mozarts Geist durch jeden Takt atmen lassen.
Im darauffolgenden Andante cantabile änderte sich die Atmosphäre merklich. Nézet-Séguin wählte eine lyrisch-zurückgenommene Lesart, doch diese war von innen heraus mit Energie und einer gewissen Dringlichkeit aufgeladen. In dieser langsamen Bewegung entfaltete sich eine innige Kantabilität, die nie in bloße Gefälligkeit abglitt. Jede Phrase war organisch geformt, jeder Seufzer der Melodie schien von einer unsichtbaren Spannung durchzogen. Besonders die erste Konzertmeisterin trat mit ihrem Violinspiel hervor: Ihr Ton sang mit betörender Wärme, und die feinen Verzierungen und Konturierungen ihrer Soli waren faszinierend detailliert herausgearbeitet. Sie setzte hier solistische Akzente von nahezu kammermusikalischer Delikatesse, ohne je den Gesamtklang zu verlassen. Das Zusammenspiel im Orchester wirkte wie aus einem Guss – die Phrasierungen waren perfekt aufeinander abgestimmt, ein Verkettung von Fragen und Antworten, die in ihrer Perfektion nur durch die außergewöhnliche Akustik des Saales noch begünstigt wurde. (Tatsächlich zählt die Akustik des Festspielhauses zu den besten in Europa : selbst die feinsten dynamischen Abstufungen und artikulatorischen Nuancen blieben plastisch im Raum stehen.) So wurde das Andante zu einem kontemplativen Erlebnis, in dem leise innere Spannung unter einem Mantel von Schönheit glomm.
Nach dieser tief atmenden Innigkeit brachte der dritte Satz – das Menuetto (Allegretto) – wieder klassisch heitere Eleganz ins Spiel. Hier zeigte das Chamber Orchestra of Europe eine Präzision und Stilsicherheit, wie man sie nur selten erlebt. Das Menuett, oft bloß als höfischer Tanz abgetan, geriet unter Nézet-Séguins Leitung zu einem kleinen Wunder an Akkuratesse: punktgenaue Einsätze, federnd leichtes Zusammenspiel und artikulatorische Klarheit ließen jeden Triolenwirbel glänzen. Jede Stimme im Orchester hatte ihre deutliche Kontur, und doch verschmolzen alle zu einem einheitlichen Atem. Man vermeinte die anmutigen Schritte eines barocken Tanzpaares in der Musik zu spüren, so durchsichtig und feinsinnig war die Darbietung. Dieses Scherzo schwebte in makelloser Balance zwischen Anmut und Lebendigkeit – ein herrschaftlicher Tanz, den Mozart hier in Töne gefasst hat und der an diesem Abend eine frische, pointierte Umsetzung fand.
Dann aber folgte das Finale, das Molto allegro, und mit ihm brach ein wahrer Sturm der Freude los. Von der ersten Note an entfesselte der vierte Satz eine mitreißende Energie – ein Fulminant ist hier kein übertriebenes Wort. Nézet-Séguin befeuerte sein Orchester zu leidenschaftlichem Musizieren: Die Ecksätze rasend vorwärtsdrängend, gab er doch auch Raum für verblüffende dynamische Abstufungen. Inmitten dieses überschwänglichen Tempos und der jubelnden C-Dur-Pracht überraschten immer wieder Momente wundersamer Ruhe. Plötzlich legte sich ein verhaltenes Piano über das Geschehen, als zarte Holzbläserstimmen filigrane Dialoge spannen – Augenblicke von berückender Differenziertheit, in denen die zuvor entfesselte Energie auf fast überirdische Weise gebündelt schien. Gerade dieser Kontrast zwischen tosenden Ausbrüchen und entrückter Stille verlieh dem Finale eine transzendente Aura. Man fühlte sich an die Vollkommenheit von Mozarts Schöpfung erinnert: Dieses Finale, ein brillantes Fugato aus mehreren Themen, ist der berühmte Abschnitt, in dem Mozart seine unübertreffliche Meisterschaft der Kontrapunktik demonstriert . Hier kombiniert er bekanntlich fünf unterschiedliche musikalische Gedanken gleichzeitig in einer Quintfuge – ein kompositorischer Geniestreich, den die Musiker mit atemberaubender Klarheit und spielerischer Leichtigkeit verwirklichten. Kein Stimmengewirr, kein Detail ging verloren, alles fügte sich zu einem strahlenden Ganzen. Mozarts Jupiter-Sinfonie, seine letzte und vielleicht größte Sinfonie, wurde von Zeitgenossen nicht umsonst als „höchster Triumph der Instrumentalkomposition“ gefeiert . In dieser Aufführung konnte man die Wahrheit dieser Worte mit jedem Takt nachempfinden. Es war, als ob sich der Olymp selbst öffnete: Mozart in Reinform, Mozart in vollendeter Gestalt. Ich wage zu behaupten, dass man gegenwärtig nirgendwo auf der Welt Mozart so erleben kann wie an diesem Abend in Baden-Baden – eine Synthese aus dem inspirierenden Dirigat Nézet-Séguins, der famosen Klangkultur des Chamber Orchestra of Europe und der außergewöhnlichen Saalakustik. Diese Allianz machte das Festival zu einem Mozart’schen Leuchtturm. Und das Schönste daran: Auf der Bühne fielen installierte Mikrofone ins Auge – was die berechtigte Hoffnung nährte, dass diese besonderen Momente für die Ewigkeit festgehalten werden.
Nach der Pause folgte mit der Großen Messe in c-Moll (KV 427) ein gänzlich anderes Kapitel Mozartschen Schaffens. Wo die Jupiter-Sinfonie hell im Licht strahlte, warf die Messe nun geheimnisvolle Schatten . Dieses Werk – entstanden 1782/83 – ist trotz seines Fragmentcharakters eine der herausragendsten Messvertonungen der europäischen Musikgeschichte und zugleich Mozarts persönlichstes Bekenntnis im kirchenmusikalischen Bereich. Yannick Nézet-Séguin wechselte dafür mühelos vom weltlichen Glanz ins spirituelle Fach und entlockte dem Werk eine geradezu andächtige Intensität. Mit beinahe überirdischer Präzision schlug er den Takt, formte Einsätze und dynamische Bögen, dass es eine reine Freude war. Man spürte förmlich die Hingabe, mit der er jeden Choreinsatz vorbereitete, jede Steigerung aufbaute. Der RIAS Kammerchor Berlin – exzellent einstudiert von Justin Doyle – reagierte auf diese Führung mit beeindruckender Klarheit und Inbrunst. Die Chorstimmen erklangen transparent und homogen, intonatorisch makellos und doch voller Leben; selbst komplexe Doppelfugen meisterte der Chor mit scheinbar müheloser Souveränität. Das Chamber Orchestra of Europe antwortete ebenso hingebungsvoll: farbenreich und gleichzeitig präzise, mit geschmeidiger Phrasierung und sinnlichem Klang. Dirigent, Chor und Orchester atmeten wie ein einziger Organismus. Gemeinsam ließen sie eine Interpretation entstehen, die etwas ganz Besonderes erreichte: nämlich den Charakter dieser Messe als großes spirituelles Drama herauszustellen. Mozarts C-Moll-Messe geriet hier nahezu zur sakralen Oper. Der Ansatz, das Werk mit opernhaftem Furor und barocker Ausdrucksvielfalt anzugehen ging voll und ganz auf. Die kontrapunktische Strenge des Barock und die Empfindsamkeit der Klassik umarmten einander in dieser Aufführung. Vor einigen Jahren hatte ich diese Messe schon einmal gehört; doch diesmal war es anders. Es war nicht nur eine in jeder Hinsicht tiefgründigere und besser durchdrungene Interpretation – es war, als wäre das Werk geistig vollkommen durchleuchtet worden. Jeder Chorverlauf, jedes Orchesterzwischenspiel schien von innen heraus verstanden und mit Sinn erfüllt. So wurde die Messe zu einem weiteren absoluten Höhepunkt des Abends, der die Zuhörer in eine andere Sphäre zu versetzen schien.
Einen großen Anteil an diesem Eindruck hatten auch die Gesangssolisten, die Mozart in dieser Messe prominent einsetzt. Allen voran Ying Fang (Sopran I), die mit ihren Arien ein wahres Koloratur-Feuerwerk entfachte. Gleich zu Beginn des „Kyrie“ leuchtete ihre klare, silbrige Stimme in den gewaltigen Raum hinein, und spätestens im „Et incarnatus est“ entrückte sie uns mit atemberaubend leicht perlenden Läufen. Ihre Koloraturen gerieten so makellos und selbstverständlich, als wären sie direkter Ausdruck himmlischer Freude – ein Klangereignis, das einem fast heilig erschien. Es gibt Momente, da schien ihre Stimme den gesamten Saal zum Innehalten zu bringen: wenn Ying Fang einen hohen Ton wie ein strahlendes Licht aufblühen ließ, hielt man unwillkürlich den Atem an. Emily D’Angelo (Sopran II) ganz wunderbar obgleich sie mit ganz anderer vokaler Farbe sang. Ihre Stimme – ein samtener, in der Tiefe warm grundierter Mezzosopran – verlieh insbesondere den lyrischen Passagen der Messe leidenschaftliche Wärme. In „Laudamus te“ etwa ließ D’Angelo die Koloraturgirlanden mühelos aufblitzen, zugleich füllte sie jede Phrase mit Empfindung und Sinn. Man merkte ihr an, wie sehr sie in der Musik aufgeht: Mit emotionaler Intensität und vornehmer Musikalität gestaltete sie ihre Soli, und durch die tiefe Führung ihrer Stimme gewann ihr Gesang an edler Gravität. Ying Fang und Emily D’Angelo ergänzten einander ideal – zwei unterschiedliche Stimmen, die in ihren Duetten und gemeinsamen Ensembles eine bezaubernde Mischung ergaben, mal wie himmlische Seraphim, mal wie klagende Seelen, immer jedoch im Dienste der Musik vereint.
Der Tenor Stanislas de Barbeyrac hatte es an diesem Abend leider etwas schwerer. Zwar verfügt er über eine grundsätzlich schöne, helle Tenorstimme, doch wirkte sein Vortrag stellenweise angestrengt. In exponierten Passagen – etwa im anspruchsvollen „Benedictus“, wo alle Solisten gemeinsam gefordert sind – schlich sich ein leicht brüchiger Klang ein, als kämpfe er mit der Höhe oder der Atemreserve. Dies minderte den Gesamteindruck nur marginal, denn de Barbeyrac phrasiert geschmackvoll und fügte sich dem Ensemblegeist; dennoch fiel auf, dass seine Stimme im Vergleich zu den übrigen Solisten am wenigsten strahlte. Michael Volle hingegen, als Basssolist, stellte eine wahre Luxusbesetzung dar. Der renommierte Sänger verlieh dem Bass-Part Autorität und Tiefgang, wie man es sich nur wünschen kann. Sein sonorer Bariton (hier als Bass geführt) füllte den Saal mit müheloser Präsenz. Jede seiner Linien – sei es das kraftvolle „Qui tollis peccata mundi“ oder sein Part im „Benedictus“ – gestaltete Volle mit durchdachter Artikulation und innerer Beteiligung. Er gab dem oft unterschätzten Basspart Würde und Charakter, hob einzelne Worte bedeutungsvoll hervor und brachte zugleich dem Ensemblegeist große Demut entgegen. In ihm vereinten sich stimmliche Potenz und seelenvolle Interpretationskunst. So trug Volle wesentlich dazu bei, dem solistischen Quartett ein Fundament aus profundem musikalischem Verständnis zu geben. Insgesamt bildeten die vier Solisten – trotz der leichten Abschattung im Tenor – ein bemerkenswert homogenes und inspirierendes Solistenensemble, das die emotionale Tiefe der Messe ebenso auslotete wie deren virtuose Anforderungen.
Nachdem der letzte Akkord verklungen war, schwebte für einen kostbaren Augenblick eine fast greifbare Stille im Raum. Nézet-Séguin verharrte mit erhobenen Armen – sichtlich bewegt von der Spiritualität des Moments – und wollte offenbar dieses heilige Schweigen noch einen Herzschlag länger auskosten. Doch es kam anders: Noch während der Dirigent seine Hände langsam zu senken begann, brach bereits begeisterter Applaus los. Jubel brandete auf, vereinzelt Bravo-Rufe – gewiss verdient nach einer derart überragenden Aufführung. Und doch blieb ein leicht bitterer Nachgeschmack. War es wirklich nötig, diese Stille zu zerreißen, kaum dass sie entstanden war? Gerade nach einem Werk von solcher spiritueller Größe wäre ein Moment des Innehaltens, ein gemeinsames Atemholen im Angesicht des Erhabenen, angemessen – ja mehr als das, beinahe heilig – gewesen. Stattdessen siegte die Ungeduld des Beifalls. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass diese Hast beinahe respektlos gegenüber dem Werk und seinem Nachklang wirkte. Natürlich, die Emotionen wollten hinaus, und niemand kann die Aufrichtigkeit des Beifalls bezweifeln. Aber noch größer wäre die Würdigung gewesen, hätte das Publikum dem Kunstwerk einen Augenblick stiller Ehrfurcht gewährt, bevor es losjubelte. Muss das sein? – fragte ich mich im Stillen. Nach dieser durch und durch erfüllenden Darbietung hätte ein letzter Moment der Stille das Erlebnis vollendet. Dennoch: Auch so hallt dieser Konzertabend lange nach. Es war ein musikalisches Erlebnis von seltener Intensität, ein Abend, der zeigte, wozu Musik imstande ist – ein Abend, der uns Mozart in Licht und Schatten, in Freude und Andacht, neu erleben ließ und der wahrhaft unvergesslich bleiben wird.
Ein Mozart-Abend in Baden-Baden – Licht und Schatten einer musikalischen OffenbarungSchon im ersten Augenblick dieses Sommerabends im Festspielhaus Baden-Baden war zu spüren, dass etwas Außergewöhnliches bevorstand. Die Jupiter-Sinfonie in C-Dur (KV 551), mit der das Chamber Orchestra of Europe unter Yannick Nézet-Séguin das letzte Konzert der Sommerfestspiele eröffnete, entfaltete von den ersten Takten an ein funkelndes Klangfeuerwerk. Mit einem strahlenden Auftakt – „Her mit den Pauken und Trompeten!“, könnte man ausrufen – zog Mozart uns in eine Welt voller heiterer Brillanz . Das Allegro vivace des ersten Satzes geriet fröhlich verspielt, ja nahezu ausgelassen, und zugleich spannte Nézet-Séguin einen Bogen gewaltiger Energie. Der Dirigent tanzte förmlich auf dem Podium zu Mozarts Rhythmus, jeden Akzent mit dem Körper mitnehmend – ein Anblick, der die unbändige Freude widerspiegelte, die er und sein Orchester an der Musik hatten. In diesen festlichen Klangkaskaden blitzten immer wieder dramatische Momente auf, in denen Mozart kurz innehält, bevor sich die Ekstase umso leidenschaftlicher fortsetzt. Diese kontrastierenden Brüche – feierlich und doch voller Spannung – wurden vom Dirigenten im Taumel des Augenblicks mitgerissen und nahtlos in die ekstatische Gesamtstimmung integriert. Es war, als würde Nézet-Séguin Mozarts Geist durch jeden Takt atmen lassen.Im darauffolgenden Andante cantabile änderte sich die Atmosphäre merklich. Nézet-Séguin wählte eine lyrisch-zurückgenommene Lesart, doch diese war von innen heraus mit Energie und einer gewissen Dringlichkeit aufgeladen. In dieser langsamen Bewegung entfaltete sich eine innige Kantabilität, die nie in bloße Gefälligkeit abglitt. Jede Phrase war organisch geformt, jeder Seufzer der Melodie schien von einer unsichtbaren Spannung durchzogen. Besonders die erste Konzertmeisterintrat mit ihrem Violinspiel hervor: Ihr Ton sang mit betörender Wärme, und die feinen Verzierungen und Konturierungen ihrer Soli waren faszinierend detailliert herausgearbeitet. Sie setzte hier solistische Akzente von nahezu kammermusikalischer Delikatesse, ohne je den Gesamtklang zu verlassen. Das Zusammenspiel im Orchester wirkte wie aus einem Guss – die Phrasierungen waren perfekt aufeinander abgestimmt, ein Verkettung von Fragen und Antworten, die in ihrer Perfektion nur durch die außergewöhnliche Akustik des Saales noch begünstigt wurde. (Tatsächlich zählt die Akustik des Festspielhauses zu den besten in Europa : selbst die feinsten dynamischen Abstufungen und artikulatorischen Nuancen blieben plastisch im Raum stehen.) So wurde das Andante zu einem kontemplativen Erlebnis, in dem leise innere Spannung unter einem Mantel von Schönheit glomm.Nach dieser tief atmenden Innigkeit brachte der dritte Satz – das Menuetto (Allegretto) – wieder klassisch heitere Eleganz ins Spiel. Hier zeigte das Chamber Orchestra of Europe eine Präzision und Stilsicherheit, wie man sie nur selten erlebt. Das Menuett, oft bloß als höfischer Tanz abgetan, geriet unter Nézet-Séguins Leitung zu einem kleinen Wunder an Akkuratesse: punktgenaue Einsätze, federnd leichtes Zusammenspiel und artikulatorische Klarheit ließen jeden Triolenwirbel glänzen. Jede Stimme im Orchester hatte ihre deutliche Kontur, und doch verschmolzen alle zu einem einheitlichen Atem. Man vermeinte die anmutigen Schritte eines barocken Tanzpaares in der Musik zu spüren, so durchsichtig und feinsinnig war die Darbietung. Dieses Scherzo schwebte in makelloser Balance zwischen Anmut und Lebendigkeit – ein herrschaftlicher Tanz, den Mozart hier in Töne gefasst hat und der an diesem Abend eine frische, pointierte Umsetzung fand.Dann aber folgte das Finale, das Molto allegro, und mit ihm brach ein wahrer Sturm der Freude los. Von der ersten Note an entfesselte der vierte Satz eine mitreißende Energie – ein Fulminant ist hier kein übertriebenes Wort. Nézet-Séguin befeuerte sein Orchester zu leidenschaftlichem Musizieren: Die Ecksätze rasend vorwärtsdrängend, gab er doch auch Raum für verblüffende dynamische Abstufungen. Inmitten dieses überschwänglichen Tempos und der jubelnden C-Dur-Pracht überraschten immer wieder Momente wundersamer Ruhe. Plötzlich legte sich ein verhaltenes Piano über das Geschehen, als zarte Holzbläserstimmen filigrane Dialoge spannen – Augenblicke von berückender Differenziertheit, in denen die zuvor entfesselte Energie auf fast überirdische Weise gebündelt schien. Gerade dieser Kontrast zwischen tosenden Ausbrüchen und entrückter Stille verlieh dem Finale eine transzendente Aura. Man fühlte sich an die Vollkommenheit von Mozarts Schöpfung erinnert: Dieses Finale, ein brillantes Fugato aus mehreren Themen, ist der berühmte Abschnitt, in dem Mozart seine unübertreffliche Meisterschaft der Kontrapunktik demonstriert . Hier kombiniert er bekanntlich fünf unterschiedliche musikalische Gedanken gleichzeitig in einer Quintfuge – ein kompositorischer Geniestreich, den die Musiker mit atemberaubender Klarheit und spielerischer Leichtigkeit verwirklichten. Kein Stimmengewirr, kein Detail ging verloren, alles fügte sich zu einem strahlenden Ganzen. Mozarts Jupiter-Sinfonie, seine letzte und vielleicht größte Sinfonie, wurde von Zeitgenossen nicht umsonst als „höchster Triumph der Instrumentalkomposition“ gefeiert . In dieser Aufführung konnte man die Wahrheit dieser Worte mit jedem Takt nachempfinden. Es war, als ob sich der Olymp selbst öffnete: Mozart in Reinform, Mozart in vollendeter Gestalt. Ich wage zu behaupten, dass man gegenwärtig nirgendwo auf der Welt Mozart so erleben kann wie an diesem Abend in Baden-Baden – eine Synthese aus dem inspirierenden Dirigat Nézet-Séguins, der famosen Klangkultur des Chamber Orchestra of Europe und der außergewöhnlichen Saalakustik. Diese Allianz machte das Festival zu einem Mozart’schen Leuchtturm. Und das Schönste daran: Auf der Bühne fielen installierte Mikrofone ins Auge – was die berechtigte Hoffnung nährte, dass diese besonderen Momente für die Ewigkeit festgehalten werden.Nach der Pause folgte mit der Großen Messe in c-Moll (KV 427) ein gänzlich anderes Kapitel Mozartschen Schaffens. Wo die Jupiter-Sinfonie hell im Licht strahlte, warf die Messe nun geheimnisvolle Schatten . Dieses Werk – entstanden 1782/83 – ist trotz seines Fragmentcharakters eine der herausragendsten Messvertonungen der europäischen Musikgeschichte und zugleich Mozarts persönlichstes Bekenntnis im kirchenmusikalischen Bereich. Yannick Nézet-Séguin wechselte dafür mühelos vom weltlichen Glanz ins spirituelle Fach und entlockte dem Werk eine geradezu andächtige Intensität. Mit beinahe überirdischer Präzision schlug er den Takt, formte Einsätze und dynamische Bögen, dass es eine reine Freude war. Man spürte förmlich die Hingabe, mit der er jeden Choreinsatz vorbereitete, jede Steigerung aufbaute. Der RIAS Kammerchor Berlin – exzellent einstudiert von Justin Doyle – reagierte auf diese Führung mit beeindruckender Klarheit und Inbrunst. Die Chorstimmen erklangen transparent und homogen, intonatorisch makellos und doch voller Leben; selbst komplexe Doppelfugen meisterte der Chor mit scheinbar müheloser Souveränität. Das Chamber Orchestra of Europe antwortete ebenso hingebungsvoll: farbenreich und gleichzeitig präzise, mit geschmeidiger Phrasierung und sinnlichem Klang. Dirigent, Chor und Orchester atmeten wie ein einziger Organismus. Gemeinsam ließen sie eine Interpretation entstehen, die etwas ganz Besonderes erreichte: nämlich den Charakter dieser Messe als großes spirituelles Drama herauszustellen. Mozarts C-Moll-Messe geriet hier nahezu zur sakralen Oper. Der Ansatz, das Werk mit opernhaftem Furor und barocker Ausdrucksvielfalt anzugehen ging voll und ganz auf. Die kontrapunktische Strenge des Barock und die Empfindsamkeit der Klassik umarmten einander in dieser Aufführung. Vor einigen Jahren hatte ich diese Messe schon einmal gehört; doch diesmal war es anders. Es war nicht nur eine in jeder Hinsicht tiefgründigere und besser durchdrungene Interpretation – es war, als wäre das Werk geistig vollkommen durchleuchtet worden. Jeder Chorverlauf, jedes Orchesterzwischenspiel schien von innen heraus verstanden und mit Sinn erfüllt. So wurde die Messe zu einem weiteren absoluten Höhepunkt des Abends, der die Zuhörer in eine andere Sphäre zu versetzen schien.Einen großen Anteil an diesem Eindruck hatten auch die Gesangssolisten, die Mozart in dieser Messe prominent einsetzt. Allen voran Ying Fang (Sopran I), die mit ihren Arien ein wahres Koloratur-Feuerwerk entfachte. Gleich zu Beginn des „Kyrie“ leuchtete ihre klare, silbrige Stimme in den gewaltigen Raum hinein, und spätestens im „Et incarnatus est“ entrückte sie uns mit atemberaubend leicht perlenden Läufen. Ihre Koloraturen gerieten so makellos und selbstverständlich, als wären sie direkter Ausdruck himmlischer Freude – ein Klangereignis, das einem fast heilig erschien. Es gibt Momente, da schien ihre Stimme den gesamten Saal zum Innehalten zu bringen: wenn Ying Fang einen hohen Ton wie ein strahlendes Licht aufblühen ließ, hielt man unwillkürlich den Atem an. Emily D’Angelo (Sopran II) ganz wunderbar obgleich sie mit ganz anderer vokaler Farbe sang. Ihre Stimme – ein samtener, in der Tiefe warm grundierter Mezzosopran – verlieh insbesondere den lyrischen Passagen der Messe leidenschaftliche Wärme. In „Laudamus te“ etwa ließ D’Angelo die Koloraturgirlanden mühelos aufblitzen, zugleich füllte sie jede Phrase mit Empfindung und Sinn. Man merkte ihr an, wie sehr sie in der Musik aufgeht: Mit emotionaler Intensität und vornehmer Musikalität gestaltete sie ihre Soli, und durch die tiefe Führung ihrer Stimme gewann ihr Gesang an edler Gravität. Ying Fang und Emily D’Angelo ergänzten einander ideal – zwei unterschiedliche Stimmen, die in ihren Duetten und gemeinsamen Ensembles eine bezaubernde Mischung ergaben, mal wie himmlische Seraphim, mal wie klagende Seelen, immer jedoch im Dienste der Musik vereint.Der Tenor Stanislas de Barbeyrac hatte es an diesem Abend leider etwas schwerer. Zwar verfügt er über eine grundsätzlich schöne, helle Tenorstimme, doch wirkte sein Vortrag stellenweise angestrengt. In exponierten Passagen – etwa im anspruchsvollen „Benedictus“, wo alle Solisten gemeinsam gefordert sind – schlich sich ein leicht brüchiger Klang ein, als kämpfe er mit der Höhe oder der Atemreserve. Dies minderte den Gesamteindruck nur marginal, denn de Barbeyrac phrasiert geschmackvoll und fügte sich dem Ensemblegeist; dennoch fiel auf, dass seine Stimme im Vergleich zu den übrigen Solisten am wenigsten strahlte. Michael Volle hingegen, als Basssolist, stellte eine wahre Luxusbesetzung dar. Der renommierte Sänger verlieh dem Bass-Part Autorität und Tiefgang, wie man es sich nur wünschen kann. Sein sonorer Bariton (hier als Bass geführt) füllte den Saal mit müheloser Präsenz. Jede seiner Linien – sei es das kraftvolle „Qui tollis peccata mundi“ oder sein Part im „Benedictus“ – gestaltete Volle mit durchdachter Artikulation und innerer Beteiligung. Er gab dem oft unterschätzten Basspart Würde und Charakter, hob einzelne Worte bedeutungsvoll hervor und brachte zugleich dem Ensemblegeist große Demut entgegen. In ihm vereinten sich stimmliche Potenz und seelenvolle Interpretationskunst. So trug Volle wesentlich dazu bei, dem solistischen Quartett ein Fundament aus profundem musikalischem Verständnis zu geben. Insgesamt bildeten die vier Solisten – trotz der leichten Abschattung im Tenor – ein bemerkenswert homogenes und inspirierendes Solistenensemble, das die emotionale Tiefe der Messe ebenso auslotete wie deren virtuose Anforderungen.Nachdem der letzte Akkord verklungen war, schwebte für einen kostbaren Augenblick eine fast greifbare Stille im Raum. Nézet-Séguin verharrte mit erhobenen Armen – sichtlich bewegt von der Spiritualität des Moments – und wollte offenbar dieses heilige Schweigen noch einen Herzschlag länger auskosten. Doch es kam anders: Noch während der Dirigent seine Hände langsam zu senken begann, brach bereits begeisterter Applaus los. Jubel brandete auf, vereinzelt Bravo-Rufe – gewiss verdient nach einer derart überragenden Aufführung. Und doch blieb ein leicht bitterer Nachgeschmack. War es wirklich nötig, diese Stille zu zerreißen, kaum dass sie entstanden war? Gerade nach einem Werk von solcher spiritueller Größe wäre ein Moment des Innehaltens, ein gemeinsames Atemholen im Angesicht des Erhabenen, angemessen – ja mehr als das, beinahe heilig – gewesen. Stattdessen siegte die Ungeduld des Beifalls. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass diese Hast beinahe respektlos gegenüber dem Werk und seinem Nachklang wirkte. Natürlich, die Emotionen wollten hinaus, und niemand kann die Aufrichtigkeit des Beifalls bezweifeln. Aber noch größer wäre die Würdigung gewesen, hätte das Publikum dem Kunstwerk einen Augenblick stiller Ehrfurcht gewährt, bevor es losjubelte. Muss das sein? – fragte ich mich im Stillen. Nach dieser durch und durch erfüllenden Darbietung hätte ein letzter Moment der Stille das Erlebnis vollendet. Dennoch: Auch so hallt dieser Konzertabend lange nach. Es war ein musikalisches Erlebnis von seltener Intensität, ein Abend, der zeigte, wozu Musik imstande ist – ein Abend, der uns Mozart in Licht und Schatten, in Freude und Andacht, neu erleben ließ und der wahrhaft unvergesslich bleiben wird.
Autor:Marko Cirkovic aus Durlach |
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