Tschechische Philharmonie mit Semyon Bychkov
Smetanas Zyklus Má vlast im Festspielhaus Baden-Baden

- Foto: Andrea Kremper
- hochgeladen von Marko Cirkovic
Wer am Abend des 16. Mai 2025 im Festspielhaus Baden-Baden Platz nahm, wurde Zeuge einer musikalischen Sternstunde: Die Tschechische Philharmonie unter Semyon Bychkov präsentierte Bedřich Smetanas Zyklus Má vlast („Mein Vaterland“) mit einer Intensität und Leidenschaft, als entstamme dieses Werk nicht nur dem kulturellen Erbe Böhmens, sondern der klanglichen DNA des Orchesters selbst. Tatsächlich pflegt das Ensemble eine lange Tradition mit diesen sechs sinfonischen Dichtungen – alljährlich eröffnet es in Prag den Prager Frühling traditionell mit Má vlast . Entsprechend tief verwurzelt ist Smetanas patriotisches Epos im Selbstverständnis der Philharmonie, was jüngst auch auf Tonträger eindrucksvoll dokumentiert wurde: Erst 2024, im Smetana-Gedenkjahr, hat das Orchester unter Bychkov eine Aufnahme vorgelegt, die international als Referenz gefeiert wird . Umso bemerkenswerter war, wie unverstaubt und frisch diese Interpretation in Baden-Baden geriet – nichts wirkte routiniert oder selbstverständlich. Im Gegenteil: Man erlebte ein atmendes, farbenreiches Klanggemälde voller neuer Details, bei dem Tradition und spontaner musikalischer Impetus eins wurden.
Schon im ersten Teil, Vyšehrad, zeigte sich diese einzigartige Verbindung aus Werktreue und Lebendigkeit. Zart und luzide entstiegen dem Harfenduo die einleitenden Akkorde – so leicht und beinahe beiläufig, als wehten sie wie Sagenklänge aus ferner Vergangenheit herüber. Gleich darauf verdichtete sich die Atmosphäre zu melancholischem Ernst; warm getragene Hörnerstimmen erhoben sich über den sanften Streicherteppich und erzählten von vergangener Größe. Mit einem abrupten Umschwung entfachte Bychkov dann ein kraftvolles Fortissimo, in dem die Streicher mit intensiver Emphase aufblühten und die Harfenmotive majestätisch von der vollen Orchesterpalette aufgenommen wurden. Doch trotz aller Klangpracht blieb die Phrasierung der Bläser höchst lyrisch – die Holzbläser intonierten ihre Linien mit singender Eleganz, jede Phrase atmete Innigkeit. Schließlich verebbte die musikalische Erzählung in einer ätherischen Stille: Vyšehrad endete mit einer kaum hörbaren, stillen Schlusswendung, als verhauchte der Geist der alten Burg im Wind.
Ohne merkliche Zäsur schloss sich daran sogleich der wohl bekannteste Abschnitt des Zyklus an: Vltava, die Moldau. Die einleitenden Flöten- und Klarinettenfiguren – das glitzernde Quellenmotiv – erklangen an diesem Abend mit unerwarteter Dringlichkeit, drängender als gewohnt, was unmittelbar die Aufmerksamkeit fesselte. Aus diesen rieselnden Läufen ließ Bychkov den breiten Fluss entstehen: Die Moldau gleitet erhaben durch eine idyllisch glühende Klanglandschaft, das Orchester formte den Strom in weiten dynamischen Bögen. Mit präziser Zeichengebung und Sinn für Details entfaltete der Dirigent ein Panorama von immer größerer Intensität – man hörte das Wasser förmlich anschwellen, vorüberziehende Feste tanzen und die Wogen an den Felsen der Stromschnellen aufbrausen. Dabei blieb das musikalische Bild stets klar konturiert und weit ausgedeutet, jeder Stimmensatz hatte seinen Platz im breiten Flussbett dieses Klangstroms. Als sich der majestätische Fluss schließlich der Ferne zuzuneigen begann, erreichte die Spannung ihren Höhepunkt. Doch bevor der letzte Akkord verklingen konnte, brandete im Saal vorzeitig Applaus auf – ein nahtlos einsetzender Beifall, der zwar die Begeisterung des Publikums ausdrückte, jedoch den magischen Schlussmoment abrupt durchschnitt. Bychkov nahm es gelassen; nach einem kurzen Innehalten kehrte Ruhe ein, und ohne den Spannungsbogen ganz abreißen zu lassen, leitete er über in die nächste Legende.
Šárka entfaltete sich als klanglicher Kriegsschauplatz – ein dramatischer Thriller in Tönen, der die Extreme des Ausdrucks auslotete. Scharf prallten musikalische Kontraste aufeinander: Wilde Tremoli und dissonante Fanfaren ließen die Funken fliegen. Die Streicher peitschten mit rasenden Läufen und akzentuierten Rhythmen voran, während die Blechbläser harsche Signale wie Schlachtrufe ausgestalteten. Hass und Vergeltung wurden förmlich körperlich spürbar in Smetanas musikalischer Erzählung der List der Kriegerin Šárka. Bychkov und das Orchester machten die unerbittliche Dramatik dieser Partitur klanglich erfahrbar – Hass und Vergeltung waren in jedem Takt greifbar, und die Spannung hielt das Publikum in atemloser Starre. Kaum war der letzte eruptive Ausbruch verklungen, brach jedoch abermals spontaner Applaus aus. Offenkundig mussten die Zuhörer nach dieser erschütternden Klangschlacht kurz Luft holen und taten dies mit erleichtertem Zwischenbeifall, der allerdings erneut den fortlaufenden Zyklus unterbrach.
Doch die Musiker ließen sich davon nicht beirren. Mit Aus Böhmens Hain und Flur zog Bychkov das Publikum sofort wieder in den Bann der böhmischen Landschaft. Dieser vierte Teil begann intensiv und rauschhaft: Wie ein überschwänglicher Tanz wirbelte das Hauptthema auf, das Orchester musizierte mit mitreißendem Elan und dichter Klangfülle. Dann aber trafen den Hörer auch lyrische Kontraste von anrührender Schönheit – pastoral und innig: Immer wieder traten außergewöhnliche solistische Holzbläser-Momente hervor, etwa wenn eine Klarinette oder Flöte in ruhigem Dialog mit den Streicherflächen aufblühte. Überhaupt herrschte hier ein inniges kammermusikalisches Zusammenspiel im Großen: Trotz aller Farben und wechselnder Tempi wirkte das Orchester wie ein einziger atmender Organismus. Die Stimmungen wechselten fließend von sanfter Idylle zu überschäumender Ausgelassenheit und wieder zurück, als streife der Wind mal sacht, mal heftig durch Böhmens Wälder und Fluren. Gegen Ende steigerte sich diese vierte Dichtung zu einem scheinbaren Schluss-Höhepunkt: Ein fulminanter Ausklang ließ kurz den Eindruck entstehen, dies könne bereits das Finale des gesamten Zyklus sein. Entsprechend brach das Publikum – überwältigt von dem rauschhaften Crescendo – in erneuten Applaus aus. Einige Hörer mochten geglaubt haben, das Werk sei hier zu Ende; doch Bychkov, dem die Gesamtarchitektur von Má vlast sichtlich am Herzen lag, verharrte nur einen Moment und ließ die Stimmung nicht verpuffen. Ohne Unterbrechung schloss sich der fünfte Teil an – das Orchester blieb konzentriert, und die Aufmerksamkeit des Saals wurde rasch wieder eingefangen.
In Tábor – benannt nach der südböhmischen Hussiten-Festung – entrollte das Orchester eine archaisch anmutende Klanggewalt. Ein jahrhundertealter Hussitenchoral, „Ktož jsú boží bojovníci“ („Die ihr Gottes Streiter seid“), bildet das thematische Grundgerüst dieser Musik, und die Musiker der Philharmonie deklamierten ihn mit geradezu unerbittlicher Wucht. Die Blechbläser stampften den Choral wie einen kriegerischen Choral in den Boden, während dunkle Streicherfiguren und wirbelnde Percussion den Kampfeswillen der Hussiten evozieren. In dieser epochalen Klangschlacht lagen Finsternis und Hoffnung dicht beieinander: Aus der brausenden Orchesterwoge schimmerten immer wieder leise hoffnungsvolle Motive hervor – ein zarter Lichtschein im Schatten monumentaler Klangblöcke. Das Orchester beschwor hier nicht nur historische Heldensagen, sondern – bewusst oder unbewusst – auch zeitlose existenzielle Kämpfe. Man fühlte unwillkürlich einen Bezug zur Gegenwart: Angesichts der Unruhe unserer Zeit erhielt Smetanas musikalischer Freiheitskampf eine erschütternde Aktualität, als Sinnbild des immerwährenden Ringens um Hoffnung und Erlösung.
Ohne jeden Bruch mündete Tábor in den finalen Tonpoem Blaník. Nach all der vorausgegangenen Sturm-und-Drang-Rhetorik kehrte zunächst eine fast meditative Ruhe ein. In verhaltener Dynamik entfaltete sich ein verträumtes musikalisches Zwiegespräch: Besonders die Holzbläser erwiesen sich hier als Hochgenuss, ihre feinsinnigen Linien verschmolzen zu einem melancholisch-schönen Wehklang, als würde der Wald auf dem Blaník-Berg selbst Atem holen. Diese entrückte Passage wirkte wie ein kollektiv gebanntes Innehalten – vielleicht das musikalische Bild der im Berg schlummernden Ritter, die der Legende nach auf ihre Stunde warten. Dann aber durchbrach ein furioses Fortissimo jäh die stille Andacht, wie ein Weckruf, der die Kämpfer zum Leben erweckt: Das gesamte Orchester fuhr mit machtvollem Klang hervor, Blechbläser schmetterten fanfarenartig – ein Aufbäumen voller heroischer Spannung. In den darauffolgenden Takten erlebte man einen finalen Höhepunkt von großer symbolischer Strahlkraft. Smetana lässt am Ende von Blaník die thematischen Fäden des ganzen Zyklus noch einmal zusammenlaufen: Der einst in Vyšehrad so lieblich von den Harfen gezupfte Leitfaden ertönt nun erneut, stolz und glänzend im vollen Orchester, und verbindet sich mit dem triumphalen Schwung des Hussiten-Chorals. Diese stolzen Reprisen der Hauptmotive intonierte die Tschechische Philharmonie mit überwältigender Emphase und großer Erhabenheit. Es war, als kröne die Musik sich und ihr Vaterland selbst – ein majestätischer Abschluss, der in seiner emotionalen Wucht tief bewegte.
Die Tschechische Philharmonie hatte mit Má vlast nicht nur ein kerniges Stück ihrer eigenen Identität präsentiert, sondern ein Stück Weltkulturerbe zum Leben erweckt. Bychkovs tief empfundene, akribisch ausgearbeitete Interpretation schlug eine Brücke zwischen historischer Authentizität und aktueller Relevanz. Smetanas visionäre Klanggedichte – einst im 19. Jahrhundert zur Stärkung des tschechischen Nationalbewusstseins geschaffen – erwiesen sich in diesem Konzertabend als zeitlos gültige Metapher für Kampf, Leid und Hoffnung der Menschheit. Diese Botschaft vermittelte das Orchester mit majestätischer Autorität und inniger Empathie. Das Ergebnis war eine Konzertaufführung auf höchstem Niveau, die im Gedächtnis nachhallt – ein Abend, an dem Má vlast in Baden-Baden zu mehr wurde als nur Musik, nämlich zu einem lebendigen Stück Heimat, Geschichte und Menschlichkeit zugleich.
Autor:Marko Cirkovic aus Durlach |
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