Belcanto als Sprache
Norma mit Sonya Yoncheva im Festspielhaus Baden-Baden

Foto: Michael Gregonowits

Bellinis Norma – Romanis Libretto nach Soumet – entfaltete sich am 24. August 2025 im Festspielhaus Baden-Baden in einer konzertanten Konstellation, die das Wesentliche freilegt: Linie, Atem, Wortakzent und die Balance zwischen Cantabile und Cabaletta. Genau in diesem Spannungsfeld setzte Domingo Hindoyan an. Die Sinfonia zündet bei ihm sofort: ein kompakter, impulsiver Aufschlag, der Puls schlägt deutlich. Dann nimmt er die Zügel zurück. Das kann man „Zurückhaltung“ nennen, ich hörte vor allem eine bewusste Glättung der Oberflächen – keine Überzeichnung, keine opernhafte Theatralik, sondern eine brettklare Anlage der dynamischen Terrassen. Die Tutti lasteten schwer, nicht plump, eher wie ein fest verankertes Fundament. Darüber legten die Holzbläser weich gezeichnete, beinahe gesungene Phrasen; Oboe und Klarinette verbanden die Gelenke zwischen Perioden mit einem Legato, das wie eine einzige, lange Aus- und Einatmung wirkte. Das Gstaad Festival Orchestra zeigte dabei eine Qualität, die man nicht schönreden muss: seidig geschichtete Streicher, saubere Intonation in den heiklen Mittelstimmen, eine Holzbläsergruppe, die mit Timbre-Feinabstufungen spielte, als läge eine Kammermusikprobe unter der großen Geste verborgen. Hindoyans Agogik blieb zunächst kontrolliert, fast kühl; umso wirkungsvoller, wie er die Spannungskurve im Finale anzieht, bis Chor, Orchester und Soli die Luft im Saal förmlich komprimieren. In diesen letzten Seiten war die Energie so dicht, dass das Ohr keinen Fluchtpunkt mehr suchte.

Der Chor der Bühnen Bern war für mich ein Glücksfall dieser Aufführung. Nicht nur wegen der Masse des Klangs – die ist mächtig, aber nie pauschal –, sondern wegen der Artikulation: Konsonanten als rhythmische Zündfunken, Vokale breit getragen, ohne in Lautstärke zu kippen. Die Entscheidung, den Chor nicht statisch hinter dem Orchester zu parken, sondern ihn vor oder seitlich am Klangkörper vorbeiführen zu lassen, verlieh der konzertanten Anlage szenischen Atem. Räume öffneten sich und schlossen sich wieder, der Chorklang bekam Tiefe, als hätte man dem Stück eine dritte Dimension zurückgegeben.

Sonya Yoncheva hat als Norma etwas, das sich nicht „herstellen“ lässt: Autorität in der Tongebung. Ihr Sopran steht dunkel im Kern, die Farbe mit einem feinen Schleier versehen, der in der Höhe aufreißt und Licht einlässt. In der Cavatina – ja, Casta Diva ist hier mehr als eine Visitenkarte – hält sie die Linie mit einer Kontrolle über das messa di voce, die ich immens schätze: das Piano wirklich piano, die Aufblende zum Mezzo forte ohne Bruch, Portamenti sparsam, aber dort, wo der Text um Frieden bittet, mit jener Biegsamkeit, die Belcanto erst zur Sprache macht. Die nachgesetzten Verzierungen bleiben „aus dem Wort“ entwickelt; Yoncheva degradiert Koloraturen nicht zu Schmuck, sondern nutzt sie als semantische Verstärker. Im Verlauf des Abends spürt man, wie sie die Figur in die Stimme hineinwachsen lässt: Die Tessitura sitzt immer zentral, die Passaggio-Zonen sind gut gedeckt, und wo die Emotion hochkocht, bleibt die Legatolinie unkaputtbar. In den Duetten mit Adalgisa gelingt ihr jene heikle Balance aus kuppelndem Verschmelzen und nötiger Profilierung – keine Dominanzgestik, sondern dialogische Präsenz.

Karine Deshayes’ Adalgisa leuchtet vom ersten Einsatz an. Ein heller Mezzo, der mit einer noblen Mittellage führt und die Höhe ohne metallische Schärfe öffnet – ideal für Bellinis breite Kantilenen. Sie phrasiert aus der Atemsäule, setzt Akzente präzise, ohne in staccatierte Ziselierung zu verfallen. Was mich besonders überzeugte: die Binnen-Dynamik in ihren Linien, die kleinen Zurücknahmen an neuralgischen Punkten, an denen das Wort die Dehnung stoppt. Im roten Kleid setzte sie visuell einen Farbakzent, musikalisch zeichnete sie Zwischentöne, die den inneren Konflikt der Novizin nicht ausstellen, sondern hörbar machen. In den großen Duetten mit Yoncheva („Mira…“ darf man als Chiffre verstehen) verschmelzen die Timbres zu einem chiaroscuro, das für mich die Emotionalität des Abends definierte: zwei Stimmen, die sich nicht „überdecken“, sondern sich gegenseitig tragen.

Ștefan Pop gibt den Pollione ohne Sicherheitsnetz. Sein Tenor besitzt Squillo, er trägt in den Raum, und er liebt die Kante. In den Cabaletta-Passagen geht er volles Risiko, Verzierungen setzt er nicht als Pflichtübung, sondern als performative Aussage – das hat elektrisierende Momente. Gleichzeitig hört man an der oberen Kante seines Registers, dass die Attacke teuer bezahlt wird: Die Spitzentöne gelingen, aber der Aufwand ist hörbar, die Stütze muss hart arbeiten, der Klang gerät gelegentlich eng. Das schmälert den Eindruck nicht grundsätzlich; im Gegenteil, Pops Rollenbild gewinnt durch diese Unbedingtheit dramatisches Profil. Pollione ist hier kein geschmeidiger Charmeur, sondern ein Getriebener – und das hat Schlagkraft.

Alexander Vinogradov als Oroveso setzt von unten her das Maß. Sein Bass besitzt jenes schneidende, fast blechern glitzernde Timbre, das Autorität verleiht, ohne das Vibrato zu verengen. Er führt die Linie mit Gravität, die Rezitationen bekommen priesterliche Ruhe, die Ausbrüche schieben aus dem Körper, nicht aus dem Hals. Besonders in den kollektiven Anrufungen war seine Stimme das statische Zentrum, um das sich der große Klang der Szene ordnete – spirituell aufgeladen, doch so kontrolliert, dass nie Pathos-Überdruck entsteht.

Die kleineren Partien fügen sich klug ins Ganze. Kristina Klein zeichnet eine Clotilde mit klarem, sauber fokussiertem Ton und verlässlicher Präsenz; sie setzt Stützen in die Szenen, die man oft unterschätzt. Marin Yonchev macht aus dem Flavio mehr als Staffage; sein Tenor sitzt vorn, die Ansprache kommt direkt, und in den kurzen Auftritten ist alles da, was man sich an Kontur wünscht.

Dass der Abend dramaturgisch so geschlossen wirkte, macht eine Episode umso absurder, die sich mitten in einem der zartesten Duette ereignete. Hinter mir raschelte es plötzlich, nicht dieses verlegene, sondern ein handfestes, aluminiumglänzendes Rascheln. Ich drehte mich um und sah einen Herrn im pinkfarbenen Kurzarmhemd, eine grotesk grobe Metallbrille im Gesicht, das Fernglas lässig um den Hals, die Alufolie des Vesperbrotes wie ein Perkussionsinstrument in der Hand. Er aß. Und er aß weiter. Schmatzend, kauend, staunensfrei, als befände er sich auf einer Hüttenterrasse mit Aussicht auf heilige Eichen. Zeichen, Blicke, leise Bitten – alles perlen ab. Eine Miniatur der Profanität, genau dort, wo Bellinis Poesie am dünnsten Faden hängt. Man fragt sich, warum. Eine Antwort gibt es nicht; die Musik gab sie zum Glück selbst, indem sie ihn übertönte, nicht in Dezibel, sondern in Bedeutung.

Weil es gesagt sein muss: Hindoyan steigert sich hörbar. Was zu Beginn sehr kuratiert wirkt, findet auf dem Weg ins Finale jene innere Spannung, die den Belcanto von innen her antreibt. Plötzlich entstehen Mikrobewegungen in den Übergängen, kleine Rubati, die das Sprechen der Melodie freilegen; die dynamischen Kuppeln atmen weiter. Wenn Chor, Orchester und Soli am Schluss in voller Kraft zusammengehen, ergibt sich dieses seltene Moment von Kollektivklang, der nichts zuschüttet, sondern alles bündelt. Ich fühlte mich – ja – weggedrückt vom Sitz, aber wichtiger: Ich fühlte mich hineingezogen in die Logik der Partitur.

Autor:

Marko Cirkovic aus Durlach

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