Ausladung Lahav Shani & Münchner Philharmoniker
Verwahrlosung des Maßstabs

Foto: Tobias Hase

Es gibt Entscheidungen, die nicht nur falsch sind, sondern kulturgeschichtlich kleinmütig. Die Ausladung der Münchner Philharmoniker durch das Flanders Festival in Gent gehört in diese Kategorie. Wenige Tage vor dem geplanten Auftritt in der St.-Bavo-Kathedrale am 18. September wird ein europäisches Spitzenorchester abbestellt, weil sein Dirigent Lahav Shani auch Musikdirektor des Israel Philharmonic Orchestra ist – flankiert von der erklärten Unfähigkeit der Festivalleitung, „ausreichende Klarheit“ über Shanis Haltung gegenüber einem als „genozidal“ denunzierten „Regime“ zu gewinnen. In diesen Formulierungen bündelt sich eine gefährliche Verkehrung: Kunst wird unter Gesinnungsverdacht gestellt, das Podium zur Sanktionsbühne umgebaut, die Einladung zur Loyalitätsprüfung degradiert. Das ist nicht nur unklug. Es ist eine Preisgabe der europäischen Idee des Konzertsaals als Raum der Freiheit. 

Man muss dieses Manöver beim Namen nennen. Wer die Mitwirkung eines Künstlers davon abhängig macht, dass er öffentlich das politisch erwünschte Vokabular bekräftigt, ersetzt das Ethos der Kunst durch ein Ritual rhetorischer Selbstbezichtigung. Die perfide Eleganz solcher „Klarheitsforderungen“ liegt darin, dass sie unendlich sind: Sie lassen sich nie erfüllen, weil die geforderte Distanzierung – von wem genau, in welcher Präzision, in welchem Tonfall – stets als noch nicht deutlich genug erklärt werden kann. Die Konsequenz ist ein System der vorauseilenden Reinheitsbeteuerung. Das Festival hat diese Logik in offizieller Sprache festgeschrieben, ausdrücklich unter Bezug auf politische Appelle. Damit wird die künstlerische Sphäre ausdrücklich unter Kuratel aktueller Macht- und Deutungskonstellationen gestellt. Ein Festival, das „Serenität“ reklamiert, verordnet in Wahrheit eine Geschmackszensur. 

Demgegenüber wirken die Reaktionen aus München – die Philharmoniker, Oberbürgermeister und Intendanz – wie das Echo einer Erinnerung daran, wozu ein Orchester überhaupt existiert: nicht als Bekenntnisinstrument, sondern als Medium von Dialog, Menschlichkeit, Vielstimmigkeit. Dass die Stadt und das Orchester die pauschale Stigmatisierung israelischer Künstler als Verstoß gegen europäische Grundwerte benennen, ist keine Rhetorikschablone, sondern die nüchterne Diagnose einer Verwahrlosung des Maßstabs. Kunst ist kein Exerzierplatz für Pauschalurteile über Herkunft und Zugehörigkeit. Sie ist ein Labor der Differenz. Wer sie auf Sippenhaft schrumpft, verlässt das Terrain der Aufklärung. 

Es lohnt, den biographischen und institutionellen Kontext nicht zu verschweigen. Lahav Shani, in Tel Aviv geboren, seit der Saison 2020/21 Musikdirektor des Israel Philharmonic und designierter Chefdirigent der Münchner Philharmoniker ab 2026, ist ein Künstler, der international für Präzision, Respekt und ein ruhig atmendes, argumentatives Musizieren gerühmt wird – ein Musiker, dessen öffentliches Auftreten seit Jahren durch besonnene Sprache und vermittelnde Gesten gekennzeichnet ist. Ihn stellvertretend für politische Totalurteile zu bestrafen, bedeutet, den Grundsatz der individuellen Verantwortlichkeit abzuschaffen – ein Grundsatz, ohne den weder Recht noch Kultur Bestand haben. 

Der moralische Gestus, mit dem sich Teile des europäischen Kulturbetriebs gegenwärtig schmücken, ist eine Gratis-Moral: billig im Erwerb, teuer in der Wirkung. Sie ist billig, weil sie ohne Risiko auskommt – denn der Applaus ist garantiert, solange man nur die richtigen, scharfkantigen Wörter zur rechten Zeit platziert. Teuer ist sie, weil sie das, was ein Festival, ein Orchester, eine Kathedrale als Resonanzraum leisten könnten, opfert: die Zumutung des Ambivalenten, die Begegnung mit der Fremdheit des Anderen, die paradoxe Erfahrung, dass in der Musik gerade das Unübersetzbare verbindet. Wer statt dessen Gesinnungsfilter vorschaltet, verliert das, was in der Kunst mehr zählt als jedes Schlagwort: die Zähigkeit des Hörens.

Philosophisch betrachtet liegt der Fehler tiefer. Kultur entfaltet ihre Wahrheit nicht im Modus der Entscheidungsschlacht, sondern im Modus der Erscheinung. Ihr „Wille zur Wahrheit“ – um Nietzsches Vokabel zu gebrauchen – ist kein Wille zur moralischen Verordnung, sondern zum Sehen-Können. Kunst gründet auf der Anerkenntnis, dass Vielstimmigkeit kein Mangel, sondern eine Methode ist. Wenn ein Festival künstlerische Mitwirkung von politischen Loyalitätserklärungen abhängig macht, verwechselt es Urteil und Vorurteil: Es ersetzt die Bewegung des Verstehens durch das Stigma. Das ist epistemisch schwach – und politisch gefährlich, weil es die öffentliche Sphäre erneut entlang von Herkunftsmarkern reorganisiert.

Der Konzertsaal hingegen ist, im besten Sinne, ein „heterotopischer“ Raum: eine Gegenwelt, in der Regeln außer Kraft gesetzt werden, um andere – musikalische, dialogische – Geltung zu erhalten. Hier durfte sich Europa immer wieder neu erfinden, vom Streichquartett der Aufklärung bis zur gewaltigen Symphonik, die individuelle und kollektive Stimme verschaltet. Man kann über Beethoven und Mahler, über Schubert und Wagner streiten – doch der Streit trägt, weil er getragen wird von der Anerkennung des jeweils anderen Hörens. Die Gent-Entscheidung kappt dieses Band und erklärt die Gewalt des Politischen zur ultima ratio. Das ist, in der Sache selbst, die Negation dessen, was ein Festival leisten sollte.

Hinzu kommt die fatale Vorbildwirkung. Wenn ein prominenter Veranstalter die Willkür eines Gesinnungstests institutionalisiert, verschiebt er den Branchencodex: Agenturen, Bühnen, Intendanzen werden sich – aus Angst vor der jeweils empörungsfähigsten Gruppe – künftig absichern wollen, indem sie nicht Kunst prüfen, sondern Profile. Die Luft wird dünn, zunächst für Israelis, schnell für alle, denen irgendeine vermeintliche Nähe zu irgendetwas nachgesagt werden kann. Der Effekt ist eine stille Deprofessionalisierung: Repertoire, Besetzung, Klangidee werden sekundär; primär wird die performative Reinheit. So verliert ein Kontinent, was ihn groß gemacht hat: die souveräne Trennung von Kunsturteil und Machturteil.

Antisemitismus ist kein Relikt der Vergangenheit, sondern eine wandlungsfähige Semantik der Entwürdigung, die ihre Formen stets dem herrschenden Diskursregime anpasst. Heute tritt er häufig nicht mehr als plumper Rassenwahn auf, sondern als moralisch drapierte Kulturkritik, als vermeintlich „antistaatliche“ Haltung, die in Wahrheit das Individuum hinter kollektiven Zuschreibungen verschwinden lässt. Wo israelische Künstler nicht nach ihrer Kunst, sondern nach dem Pass, der Herkunft oder der vermuteten Loyalität taxiert werden, wo Delegitimierung, Dämonisierung und Doppelstandards – die drei D der einschlägigen Diagnostik – das Urteil strukturieren, dort ist der antisemitische Code am Werk, auch wenn er sich der Sprache der Empörung, der Menschenrechte oder einer grotesk überspannten „Klarheitsforderung“ bedient. Der Mechanismus ist alt: Er ersetzt die personale Verantwortlichkeit durch Sippenhaft, die konkrete Tat durch die Fiktion einer metaphysischen Verbundenheit. So gerät die Kunst zur Projektionsfläche eines Ressentiments, das seiner selbst nicht mehr sicher ist und darum nach moralischer Beglaubigung sucht.

Antisemitismus beginnt dort, wo das Individuum nicht mehr als Subjekt der Handlung erscheint, sondern als Abziehbild eines Kollektivs, dem man jede Nuance, jeden Zwischenton, jede Ambivalenz abspricht.

Gerade nach dem 7. Oktober, der schmerzhaft offengelegt hat, wie fragil die Grenze zwischen Zivilisation und barbarischer Vernichtung bleibt, wäre ein Mindestmaß an intellektueller Redlichkeit geboten: Kritik an Politik ist legitim, Kollektivverdacht gegen Juden und Israelis ist es nie. Kulturelle Institutionen, die den Reflex der Distanzierungsrituale bedienen, verwechseln Verantwortung mit Symbolpolitik und tragen zur Normalisierung eines sekundären Antisemitismus bei, der die Opfergeschichte in eine Schuldrhetorik gegen die Nachfahren verkehrt. Der einzig tragfähige Gegenentwurf besteht in der Rückkehr zum Individuationsprinzip: Wir beurteilen Künstler nach der Qualität ihres Tuns, nicht nach den Zuschreibungen an ihre Herkunft; wir verteidigen die Freiheit der Kunst als universellen Anspruch, nicht als Gnadenakt der jeweils lautesten Moralökonomie. Alles andere ist nicht nur ästhetisch steril, sondern politisch gefährlich.

Es wäre zu einfach, an dieser Stelle bloß den Begriff des Antisemitismus zu bedienen – so gerechtfertigt er in vielen Kommentaren als Diagnose des Mechanismus der Kollektivabwertung auch erscheinen mag. Präziser ist: Die Entscheidung in Gent entstellt den Universalismus der Kunst zu einer partikularen Moral, die sich am Leuchten der eigenen Tugend ergötzt und damit blind wird für die unersetzliche Arbeit des Begriffs. Wer israelische Musiker auslädt, weil ihnen nicht die gewünschte Distanzformel über die Lippen kommt, stellt nicht Israel an den Pranger, sondern die Idee der Kunst. Und mit der Kunst die Idee Europas, das, seit den Tagen der Aufklärung, den dissidenten Ton zum Recht des Bürgers erhoben hat. 

Wenn Lahav Shani in seinen bisherigen Ämtern eines bewiesen hat, dann dies: dass die Würde des Tons nur dort hörbar wird, wo wir dem Anderen die Stimme lassen. Ihn, stellvertretend für eine politische Totalerzählung, aus der Kathedrale zu verbannen, ist ein Affront gegen diese Würde. 

Es bleibt die praktische Forderung: Ein Festival, das in die Zukunft schauen will, muss den Mut haben, Fehler zu korrigieren. Es kann – und sollte – diesen Schritt gehen: die Einladung aufrecht erhalten oder erneuern, eine Bühne für die Kunst schaffen und die politische Rede dorthin verweisen, wo sie hingehört: in das Gemeinwesen, in Parlamente, in die Öffentlichkeit – aber nicht als Zugangskontrolle am Bühnenrand. Eine Entschuldigung wäre kein Gesichtsverlust, sondern ein Akt jener Souveränität, die der Kunst am besten steht: der Einsicht, dass Freiheit mehr ist als ein Wort im Programmheft.

Bis dahin bleibt diese Absage ein Menetekel. Nicht, weil sie besonders spektakulär wäre, sondern weil sie emblematisch ist für die Verwechslung von Tugendsimulation mit Verantwortung. Europa braucht das Gegenteil: eine Kultur, die sich nicht vom tagespolitischen Furor hypnotisieren lässt, sondern in der Treue zur Freiheit und in der Geduld des Hörens ihre Würde behauptet. In Gent wäre jetzt Gelegenheit, damit anzufangen. 

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Autor:

Marko Cirkovic aus Durlach

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