Manfred Spitzer bei Vortrag in Mannheim
Digitalisierung "Brandbeschleuniger“ der Einsamkeit

„Mannheim braucht mehr analoge Orte“ – (von links) Manfred Spitzer, Jessika Tirandazi, Gerhard Sprakties, Timo Harald Lozano und Kathrin Heinrich.  | Foto: DW/Lammer
  • „Mannheim braucht mehr analoge Orte“ – (von links) Manfred Spitzer, Jessika Tirandazi, Gerhard Sprakties, Timo Harald Lozano und Kathrin Heinrich.
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Mannheim. Corona habe uns vor allem dieses gelehrt: „unser Leben sinnvoller zu gestalten, die Natur wieder bewusster zu erleben, ein paar Homeoffice-Tage mehr einzulegen - auch um weniger Berufsverkehr zu erzeugen“, so der bekannte Hirnforscher und Psychiater Manfred Spitzer bei seinem Vortrag im MARCHIVUM. Und trotzdem habe es Viele einsamer gemacht, vor allem die Jungen. Fakt ist: Die Zahl der Single-Haushalte steigt. Gehören die 20- bis 35-jährigen tatsächlich zu den Verlierern der Pandemie? Eine Generation, von der man vermutet, sie sei gut vernetzt, jung und überall unterwegs? Es sind die sozialen Medien, die einen wirklichen Kontakt zu Menschen verhindern und Einsamkeit erzeugen. Vertreterinnen und Vertreter von Kirche, Diakonie und Stadt, sind sich im anschließenden Podiumsgespräch einig: Der Mensch braucht Orte und Gemeinschaftsaktivitäten für jedes Alter.

Chance liegt im Stadtteil

Wie viele Freunde haben Sie eigentlich? Wen könnten Sie anrufen, wenn Sie nachts ein Bett zum Schlafen bräuchten? Wie viele Weihnachtskarten haben Sie zuletzt verschickt? Manfred Spitzer nennt das Problem beim Namen. Denn in der Regel wissen wir, dass wir drei bis vier gute Freunde haben, manche weniger. Orte, an denen wir Menschen kennen lernen können, ohne etwas haben oder darstellen zu müssen, sind rar. Diakonie und Kirche sehen sich in der Verantwortung auf diesen Trend zu reagieren. Das sieht auch Timo Harald Lozano, Geschäftsführer der Diakoniestiftung Mannheim: „Wir sollten mehr Orte schaffen, wo sich Menschen auch ohne Konsum begegnen und vernetzen können“. Öffentliche Begegnungsräume spielen hierbei eine wesentliche Rolle, diese seien leider in den letzten Jahren zurückgegangen. Daher lautet unser Plädoyer, dass es davon wieder mehr geben sollte, so Lozano weiter. Kathrin Heinrich, Abteilungsleiterin für Gesundheitsförderung der Stadt Mannheim, auf die Frage, was Mannheim tun kann, setzt auf die Stärke der Quartiersarbeit: „Quartiere sind partizipativ, laden ein, mitzuwirken, etwas zu verändern.“ Dennoch wisse sie als Vertreterin der Stadt auch, hier noch mehr den Schulterschluss zu Kirche und Diakonie zu suchen, Experten an einen Tisch zu holen, um Orte und Möglichkeiten des Austauschs wieder möglich zu machen.

Bedürfnis nach Nähe und Berührung ist groß

Auch wenn die Pandemie uns mit den Möglichkeiten der Digitalisierung neu vertraut gemacht und das Kontakthalten erleichtert hat, macht der unmittelbare Augenkontakt und der direkte Körperkontakt glücklicher und ist somit gesünder, wie Spitzer betont. Jessika Tirandazi, Geschäftsführerin der Diakonie-Sozialstation Mannheim, und Altenseelsorger Gerhard Sprakties sind sich einig, dass der Bedarf nach Nähe und Berührung hoch ist. Weil er nicht nur eine vereinbarte „Leistung“ ist, worauf nicht verzichtet werden kann, sondern weil gerade im pflegerischen Bereich die Zeit zugestanden werden müsse, die der Kunde braucht, so Tirandazi. Berührung werde auf der anderen Seite auch geschätzt oder gar eingefordert, so Sprakties. „Die Menschen sagen mir weniger direkt, dass sie einsam sind, freuen sich aber nonverbal umso mehr über die Umarmung oder eine haltende Hand“. Der Pfarrer und Buchautor setzt allerdings auch auf die Chance im Quartier. Keiner kenne das Quartier so gut wie Kirche und Diakonie, sehe die Bedarfe der Menschen vor Ort und könne anhand von Projekten und Aktionen Netzwerke gegen die Einsamkeit schaffen.

„Villa“ ist Leuchtturmprojekt

Eines dieser Projekte der Diakonie ist das der „Villa“. Ein ehemaliger Kindergarten, mitten im Stadtteil Schönau, auf dem Gelände der Emmaus-Kirche, bietet einmal wöchentlich Platz für Gemeinschaft. Mit einer Innenraumfläche von über 300 m² und einem großen Außengelände samt Spielplatz ist Raum für jedermann da. Ob zum Spielen oder gemeinsam Hausaufgaben machen, oder auch für ein gemeinsames Essen. In erster Linie möchte das Projekt Kinder im Grundschulalter ansprechen, berichtet Lozano. Dabei ziele es aufgrund seiner Verortung darauf ab, Kinder verschiedener sozialer Herkunft zusammenzubringen, die sonst in Schule oder Freizeit nur peripher in Kontakt kommen.

„Geben ist seliger denn Nehmen“

Eine weitere Möglichkeit gegen die Einsamkeit sehen die Beteiligten im Ehrenamt. Rund 200 Ehrenamtliche beschäftigt die Nachbarschaftshilfe allein in der Diakonie-Sozialstation Mannheim. Eine wichtige Komponente in der sozialen Arbeit, ohne die insbesondere das Angebot zur Unterstützung und Entlastung von Pflegebedürftigen und deren Angehörigen nicht möglich wäre. Das hat folgenden positiven Nebeneffekt für die Ehrenamtlichen: sie kommen mit anderen Menschen in Kontakt, sprechen miteinander, helfen einem anderen Menschen – und das macht glücklich. „Diese Tandems sind wichtig und bewirken etwas gegen die Einsamkeit“, stellt Jessika Tirandazi fest.

Spitzer resümiert, das Problem der Einsamkeit selbst in die Hand nehmen zu müssen, indem man über Gemeinschaftsaktivitäten individuell vorsorgt, etwa über Mannschaftssport oder das Erlernen eines Orchesterinstrumentes. Dennoch sieht er auch den Staat in der Verantwortung und Verbände, entsprechend Mechanismen zu entwickeln. Sei es per Gesetz oder Förderung, über neue Projekte, die wieder Gemeinschaft möglich machen. Denn mit Smartphones mache man sicher mehr kaputt, als man glaube.

„Zusammenfinden“, die Veranstaltungsreihe der Diakoniestiftung Mannheim zum Thema Einsamkeit, endet am kommenden Samstag mit einem stimmungsvollen Abendgebet unter der Leitung von Pfarrerin Nina Roller in der Citykirche Konkordien. Musikalisch begleitet wird der Gottesdienst ab 18 Uhr von Lars Quincke. Im Anschluss lässt man die Woche bei Drinks und lockeren Gesprächen ausklingen. JeLa

Autor:

Christian Gaier aus Mannheim

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