Präzision und Hingabe
Seong-Jin Cho, Jakub Hrůša und die Berliner Philharmoniker

- Foto: Monika Rittershaus
- hochgeladen von Marko Cirkovic
Bei den Osterfestspielen in Baden-Baden 2025 boten die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Jakub Hrůša einen Konzertabend von besonderer dramaturgischer Spannweite dar. Eingerahmt von zwei Werken des 20. Jahrhunderts – einer selten zu hörenden Suite zu Leoš Janáčeks Oper „Osud“ und Béla Bartóks bahnbrechendem „Konzert für Orchester“ – stand Ludwig van Beethovens majestätisches fünftes Klavierkonzert in Es-Dur (op. 73) im Zentrum des Abends, solistisch bestritten von Seong-Jin Cho. Unter Hrůšas präzisem und inspirierendem Dirigat entfalteten sich vom ersten Takt an Spannung und Klangkultur.
Den Auftakt bildete Janáčeks „Osud“-Suite – ein Werk, das abseits gängiger Konzertprogramme steht und umso neugieriger erwartet wurde. Janáček, dessen Oper „Osud“ (Schicksal) aufgrund ihrer komplex verschachtelten Erzählstruktur selbst unter Kennern ein Schattendasein führt, entwarf in dieser Suite ein Kondensat seiner expressiven Musiksprache. Hrůša, selbst in Brünn gebürtig wie Janáček und ein ausgewiesener Kenner dessen Œuvres, ließ die Partitur mit fühlbarer Heimatverbundenheit aufleben. Im dunkel grundierenden Streicherklang und den scharf konturierten Bläser-Einwürfen entfaltete sich Janáčeks charakteristischer Tonfall, der zwischen aufwühlender Dramatik und lyrischer Innigkeit pendelt.
So spannte das Orchester einen vielschichtigen Klangteppich aus, in dem sich eng verwobene motivische Figuren zu einem dichten Geflecht fügten. Plötzlich brach daraus ein tänzerischer Abschnitt hervor, der mit böhmischer Rhythmenlust aufleuchtete. Man spürte in jedem Takt, wie Hrůša die Musiker zu phrasiertem, sprachnahem Musizieren anhielt: Janáčeks „Sprachmelodie“ fand hier in instrumentalem Gewand zu packender Gestalt.
Nach diesem intensiven Einstieg führte das Programm in klassischere Gefilde: Beethovens Klavierkonzert Nr. 5, das „Emperor“-Konzert, schlug als schwebendes Herzstück die Brücke zwischen Janáčeks Spätromantik und Bartóks Moderne. Das letzte Klavierkonzert Beethovens eröffnete mit heroischem Gestus; Seong-Jin Cho ließ bereits in den einleitenden kadenzartigen Läufen des ersten Satzes keinen Zweifel daran, dass er die Macht und den Glanz dieser Partitur voll auskosten würde. Hrůša und die Berliner Philharmoniker antworteten mit wuchtigem, dabei präzise abgestuftem Orchesterklang – die majestätischen Es-Dur-Eröffnungsakkorde im Tutti entfalteten eine prachtvolle Strahlkraft, der Cho mit perlenden Tonkaskaden begegnete.
Diese Interpretation legte insgesamt den Akzent stark auf Beethovens zarte, gar naive Seite. Rasante Läufe und Oktavgewitter gerieten glanzvoll, im Adagio jedoch vermisste man etwas an innig-poetischem Atem. Zwar imponierte Cho auch hier mit kultiviertem Anschlag, doch blieb der Ausdruck stellenweise an der Oberfläche. Erst im finalen Rondo brillierte er wieder mit schillernder Virtuosität, kongenial unterstützt vom aufmerksam und transparent agierenden Orchester. Der Jubel am Ende war dementsprechend stürmisch und entlockte Cho sogar noch eine kurze, virtuose Zugabe aus seinem zeitgenössischem Repertoire, bevor die Pause dem Publikum Gelegenheit zum Atemholen gab.
Nach der Pause betrat mit Bartóks „Konzert für Orchester“ schließlich der unbestrittene Höhepunkt des Abends die Bühne. Dieses in fünf Sätzen angelegte Werk ist ein spätes Vermächtnis des ungarischen Komponisten – entstanden 1943 im amerikanischen Exil, zählt es heute zu seinen meistgespielten Partituren. Bartók titulierte das Werk bewusst als „Konzert“, da er das Orchester selbst als virtuosen Protagonisten ins Zentrum rückt, indem er wechselweise verschiedene Instrumentengruppen solistisch hervorhebt. Die Berliner Philharmoniker erwiesen sich dafür als ideales Kollektiv: Ihre Musiker in allen Registern konnten in diesem meisterhaft instrumentierten Stück eindrucksvoll ihre Klasse demonstrieren.
Hrůša dirigierte die komplexe Partitur mit souveräner Übersicht und feinem Gespür für die großangelegte Form. Gleich der Beginn des ersten Satzes (Introduzione) zog das Publikum in den Bann: Aus einem unheilvoll flüsternden Pianissimo der tiefen Streicher erwuchs allmählich eine spannungsgeladene Klanglandschaft. Hrůša nahm sich Zeit, die düster flackernden Motive behutsam aufzuschichten, bis das Hauptthema schließlich mit wuchtiger Prägnanz im vollen Orchester aufbrauste. Im anschließenden Allegro vivace entfesselte er einen mitreißenden Drive – die rhythmischen Akzente und die schnellen Wechsel saßen punktgenau, während selbst in höchster Intensität die Transparenz der polyphonen Strukturen erhalten blieb.
Im zweiten Satz, dem berühmten „Giuoco delle coppie“ („Spiel der Paare“), bewies das Orchester feinsinnigen Humor und klangliche Delikatesse. Hier lässt Bartók paarweise Instrumente in charakteristischen Klangfarben und Intervallen auftreten: Zunächst intonierten zwei Fagotte im gemütlich-tiefen Register ihr Thema, gefolgt von nasal-scherzenden Oboen, warm timbrierten Klarinetten, hell prangenden Flöten und schließlich von markant auftrumpfenden Trompeten – jede Gruppe begleitet vom trockenen Puls der kleinen Trommel. Die Philharmoniker zelebrierten diesen farbenfrohen Reigen mit höchster Präzision und Spielfreude. Jeder der im Dialog hervortretenden Instrumentalisten nutzte seinen Auftritt, um einen eigenen Farbton ins Gesamtbild zu mischen. Das Resultat war ein pointiert-humorvolles Scherzo voller Eleganz, das die brillante Geschmeidigkeit des Ensembles unter Beweis stellte.
Der dritte Satz, die „Elegie“, bildete mit ihrer schwermütigen Ruhe den emotionalen Kern des Werkes. Die Berliner Philharmoniker entfalteten hier ein intensives Nachtstück voller klanglicher Raffinesse: hauchtiefe Streicher und schattenhafte Holzbläserfiguren erschufen eine Atmosphäre dunkler Melancholie. Ein gedämpft klagendes Hornmotiv erhob sich über einem geheimnisvoll flirrenden Teppich aus Streicherklängen – man glaubte in diesen fahlen Rufen die Wehmut des Komponisten im Exil zu spüren. Hrůša hielt das Geschehen in schwebender Balance; die Musik floss organisch und frei atmend dahin und erreichte dennoch eine enorme emotionale Dichte.
Der vierte Satz, das „Intermezzo interrotto“ (unterbrochenes Zwischenspiel), geriet anschließend zu einer klanglichen Persiflage mit überraschendem Effekt. Das Orchester kostete zunächst das süffig-lyrische Hauptthema in volltönender Wärme aus – angeführt von einer sanglich intonierten Klarinettenmelodie von fast volksliedhaftem Charme. Jäh jedoch durchschneidet ein greller Zwischenruf der tiefen Blechbläser die Idylle: Mit grob karikierendem Tonfall intonierten sie ein triviales Motiv, das wie eine bissige Parodie anmutete (so mancher Kenner fühlte sich hierbei schmunzelnd an das überdehnte Marschthema aus Schostakowitschs „Leningrader“ Sinfonie erinnert). Hrůša und seine Musiker setzten diesen abrupten Stilbruch mit pointierter Verve um – man spürte die verblüffte Heiterkeit im Saal, ehe das Orchester wieder zum verhangenen Ton des Beginns zurückfand. Hier bewiesen die Philharmoniker erneut ihre einzigartige Fähigkeit, extreme Stimmungsumschwünge blitzartig und mit höchster Stilsicherheit zu meistern.
Schließlich mündete das Werk in das fulminante Finale, in dem sich alle zuvor aufgebauten Energien entluden. Mit schier grenzenloser Verve warfen sich Hrůša und das Orchester in dieses Presto-Schlussrondo. Die Streicher wirbelten mit atemberaubender Präzision durch die wilden Läufe, während die Blechbläser fanfarenartig strahlten und die Pauken mit unerbittlichem Nachdruck den Klangrausch vorantrieben. Doch bei aller entfesselten Kraft blieb die Kontrolle gewahrt: Hrůša verstand es meisterhaft, die Dynamik zu staffeln und immer neue Spannungswellen aufzubauen, sodass das Geschehen sich zu einem überwältigenden Höhepunkt steigerte. In den letzten Takten bündelten die Philharmoniker ihre gesamte klangliche Potenz zu einem triumphalen Schlussakkord.
Dieser rauschhafte Schlusspunkt riss das Publikum endgültig von den Sitzen. Minutenlanger Applaus belohnte die Musiker für eine Darbietung, die an Präzision und Hingabe nichts zu wünschen übrig ließ. Bartóks „Konzert für Orchester“ erwies sich als unangefochtener Höhepunkt eines Abends, der bereits mit Janáčeks rar gebotenem Auftakt und der Beethoven’schen Klangpracht reich an Höhepunkten war. Die dramaturgisch geschickte Abfolge – von Janáčeks impressionistisch gefärbter Exotik über Beethovens klassisch-heroischen Glanz hin zu Bartóks farbenfroher Modernität – gestaltete eine fesselnde Reise durch verschiedene Klangwelten. Am Ende hallte jedoch vor allem Bartóks visionäre Klangsprache nach – ein orchestrales Vermächtnis, das in dieser denkwürdigen Aufführung zu voller Blüte gelangte. Ein besonders bewegender Moment ereignete sich ganz zum Schluss, als Jakub Hrůša, nachdem er während des Applauses gefühlt jedem Einzelnen persönlich die Hand gereicht hatte, seine Hände schließlich der Partitur entgegenstreckte – eine Geste der tiefen Dankbarkeit, begleitet von einer ehrfürchtigen Verneigung vor dem Werk selbst.
Autor:Marko Cirkovic aus Durlach |
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