Zwischen Schlag und Schweigen
Isabelle Faust und die Beethoven-Nacht im Festspielhaus Baden-Baden
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Baden-Baden, 21. November 2025. Beethoven pur in Baden-Baden: Im Festspielhaus standen an diesem Abend drei Werke des Meisters auf dem Programm – die Festouvertüre „Zur Namensfeier“ C-Dur op. 115, das Violinkonzert D-Dur op. 61 und die Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92. Für die Aufführung sorgten das Balthasar-Neumann-Orchester unter Leitung des jungen britischen Dirigenten Finnegan Downie Dear sowie als Solistin die Geigerin Isabelle Faust. Was nach einem festlichen Beethoven-Abend ganz im Zeichen historisch informierter Klangkultur aussah, entpuppte sich als ein besonderes Erlebnis – glänzend in vielen Momenten, doch auch voller interpretatorischer Wagnisse, die zwiespältige Empfindungen hinterließen.
Gleich zum Auftakt mit der Ouvertüre Zur Namensfeier zeigte Finnegan Downie Dear deutlich, wohin er interpretatorisch gehen wollte. Beethoven selbst schuf diese Gelegenheitsouvertüre als strahlendes, festlich-fanfarenreiches Stück, das üblicherweise in glanzvollem Forte erblüht. Zunächst erklang das eröffnende Hornsignal warm und elegant, von edler Anmut – doch dieser Klang fand keinen langen Nachhall, sondern verlief leider im Sande. Der Dirigent zerlegte das Stück förmlich in seine Einzelteile: Was eigentlich brillant jubelnd daherkommen könnte, wurde von ihm ziseliert und kontrastiert, bis der festliche Glanz zerrann. Technisch war dies höchst kontrolliert, ja brillant im wörtlichen Sinn; doch der Zugang geriet allzu brachial. Downie Dear trieb das auf historischen Instrumenten musizierende Orchester an die Grenzen seines Klangs – die weichen, anmutigen Farben der Naturhörner und Darmsaiten wichen schroffem Forte, die Grenze zum Schmettern war mitunter überschritten. So wirkte dieser Auftakt mehr zerrissen als feierlich: Was in der Partitur als festlich strahlend verzeichnet ist, klang nun ruppig und unversöhnlich. Die Ouvertüre verlor ihren roten Faden, ihr warmer Glanz wurde verschenkt.
Doch nach dieser Ouvertüre änderte sich alles. Im Violinkonzert D-Dur entfaltete sich von den ersten Takten an eine ganz andere Klangrede. Gleich zu Beginn sprachen die sanften Streicher und leisen Paukenschläge eine Sprache der Zurückhaltung und Spannung – eine wohltuende Kehrtwende nach dem zuvor Zerrissenen. Natürlich fehlte es auch hier nicht an kraftvollen Tutti-Passagen, aber Beethoven hat dieses Werk bei weitem nicht durchgängig im Fortissimo komponiert. Downie Dear formte auch im Konzert starke Kontraste, doch die Lebhaftigkeit der Musik durfte nun atmen: Auf brausende Orchesterwellen folgten immer wieder hauchzarte Linien in den Streicherstimmen, von erhabener, beinahe unwirklicher Schönheit. Und mitten darin Isabelle Faust – die Solistin integrierte sich zunächst ganz in diese feinen Linien des Orchesters, anstatt sich vorschnell in den Vordergrund zu drängen. Sie musizierte mit dem Orchester, lauschte den Phrasen der Holzbläser, gab den Motiven der Geigen einen gemeinsamen Atem. Als ihr erster eigener Einsatz kam, offenbarte sich eine besondere Klangsprache: Fausts Ton war von filigraner Innigkeit und doch von innerer Kraft – einer Kraft, die nicht aus Lautstärke geboren wurde, sondern aus konzentrierter Intensität. Jeder Ton hatte klar gezeichnete Konturen, feinziseliert und doch voller Bedeutung. Nichts an ihrem Spiel erinnerte an Virtuosen-Allüren; im Gegenteil, Isabelle Faust schien frei von jeder Eitelkeit, ganz dem Geist der Musik verpflichtet. Sie dominierte das Geschehen nicht mit Macht oder auftrumpfender Brillanz, sondern durch Eleganz und seelische Tiefe. Alles geriet ihr scheinbar mühelos: Die schwierigsten Passagen flossen mit natürlicher Leichtigkeit aus ihrer Violine, und ihre sichtbare Spielfreude – ein stilles Lächeln hier, ein tänzerisches In-die-Saiten-Fallen dort – war ansteckend und rührend zugleich. Bereits im ersten Satz lagen in den leisen Momenten eine Erhabenheit und Tiefe, vielleicht auch ein sanfter, dunkler Schimmer – und doch strahlte die Musik dabei innerlich. Immer wieder verschmolz Faust im Tutti mit dem Gesamtklang, sog die Energie des Orchesters gleichsam in sich auf, um sie dann in ihrem nächsten Solo mit umso leuchtenderem Ausdruck zurückzugeben. Allerdings kam es auch hier zu gelegentlichen Reibungen: Wenn das Orchester unter Downie Dears impulsiver Leitung abrupt zupackte oder ein Übergang etwas ruppig geriet, wurde Fausts feine Linie kurz unterbrochen – solche leicht unsanften Akzente des Dirigenten wirkten wie Kontrastfarbe auf Fausts Pastell. Doch letztlich führte all das auf einen magischen Moment hin.
Dieser besondere Moment kam in der Kadenz des ersten Satzes, und er war das Herzstück des gesamten Abends. Beethoven selbst hat für das Violinkonzert eine ungewöhnliche Kadenz hinterlassen (ursprünglich für eine Klavierfassung geschrieben), in der die Solo-Violine von der Pauke begleitet wird – ein dialogisches Duell zwischen Saiten und Fell. Isabelle Faust und der Paukist des Balthasar-Neumann-Orchesters zelebrierten diese Kadenz in einer Weise, die den Atem stocken ließ. Was sich hier ereignete, entzieht sich fast den Worten. Faust gestaltete diese Passage mit glühender Innerlichkeit und Expressivität, ohne je laut werden zu müssen. Ihr Spiel loderte von innen heraus, technisch in jeder Hinsicht makellos, doch die Technik trat völlig in den Dienst einer tieferen Aussage. Jeder Lauf, jeder Doppelgriff saß; die Pauken wirbelten dazu wie ein ferner Donnerschlag, ein Herzschlag der Symphonie. Die Geige schien mit der Trommel zu sprechen, zu flüstern, zu rufen – und der Raum schwang in diesem Zwiegespräch wider. Es war ein Moment der Ekstase aus der Stille, eine musikalische Eruption ganz ohne grelles Getöse. Man mochte seinen Ohren kaum trauen ob dieser kühn-poetischen Klangrede. Dieses Kadenz-Erlebnis bildete gleichsam das Epizentrum des Konzerts, einen Augenblick, in dem Zeit und Atem stillzustehen schienen. Was danach folgte – der Larghetto-Zweitsatz, wundervoll zart gesponnen, voller feiner Detailarbeit und inniger Gesanglichkeit, sowie das abschließende Rondo-Finale, das in überschäumender Lebensfreude erstrahlte – stand zwar keineswegs im Schatten dieser Kadenz, doch schwelgte man nach dem Gehörten wie in einem Traum. Faust und Orchester musizierten auch hier mit vollendetem Stilbewusstsein: im langsamen Satz mit beseelter Ruhe, im Finale mit Esprit und glanzvollem Schwung. Dennoch hallte der Zauber jener Kadenz weiter nach, sodass man sich fast schwebend durch den Rest des Violinkonzerts bewegen durfte. Unglaublich – Isabelle Faust ist die spannendste Solistin, die mir seit langem begegnet ist.
Nach der Pause dann Beethovens Siebte. Der Auftakt dieser Symphonie – jenes geheimnisvoll pulsierende Poco sostenuto, das ins tänzerische Vivace übergeht – geriet impulsiv und packend. Kraftvoll und prägnant schleuderte das Orchester die Eröffnungsakkorde in den Raum, um gleich darauf einen weich phrasierten, atmenden Übergang zu finden. Eine Aura von Schönheit umgab diesen Beginn, und das Balthasar-Neumann-Orchester zeigte abermals seine Weltklasse: Transparent in den Stimmen, geschmeidig im Zusammenspiel, historisch informiert im Klangbild und doch voller Lebendigkeit. Doch schon in diesem ersten Satz offenbarte sich die Ambivalenz von Downie Dears Ansatz. Kaum hatte er die Hörer mit sanften Akzentuierungen eingelullt, folgten wieder heftige Ausbrüche – Ausbrüche von fast übersteigerter Expressivität, die die zuvor aufgebaute Wärme jäh zerreißen konnten. Die Kontraste wurden ins Extrem getrieben. In diesen Momenten wurde Beethovens Siebte dramatischer behandelt, als sie es meines Erachtens nötig hat – wir sind hier nicht im Dies irae eines Verdi-Requiems, sondern bei der Apotheose des Tanzes, wie diese Sinfonie gern genannt wird. Gewiss, es gab auch in Downie Dears Deutung immer wieder behutsame, lyrische Augenblicke: eine phrasiert gehauchte Oboenlinie hier, ein fast kammermusikalisches Innehalten dort. Dennoch wirkte der Satz insgesamt zerrissener, als man ihn je zuvor gehört hat. Dabei waren die Leistungen der Musiker großartig: Die Holzbläser wie die Blechbläser sangen auf Weltklasseniveau, intonationsrein und seelenvoll. Wenn das ganze Orchester das berühmte Hauptthema anstimmte, geschah dies innig und mit strahlender Intensität, ohne jede grelle Überzeichnung. Die Hörner wiederum glänzten mit einem goldwarmen Ton – expressiv in ihrer Hervorhebung, aber edel und geschmackvoll. All dies aber wurde immer wieder von einer schieren rhythmischen Vehemenz überrollt. Ja, Beethoven siebte Sinfonie lebt von ihrem inneren Rhythmus, vom unablässigen musikalischen Motor; doch dieser Motor sollte nicht ohne Unterlass im roten Bereich aufheulen. Das Werk ist vielschichtig und reich an Zwischentönen – kein Vehikel bloßer Effektsteigerung. Downie Dear jedoch ließ das rhythmische Element zeitweise so dominieren, dass melodische Schönheiten und klangliche Finessen zurücktraten. Immerhin vermochte er mich wieder einzunehmen, sobald er das Tempo drosselte und den Klang atmen ließ: In solchen Momenten blitzte jene feine Differenziertheit auf, die er durchaus gestalten kann. Das Orchester folgte ihm in all dem mit leidenschaftlicher Hingabe, doch man spürte auch, wie es von der ruhelosen Energie des Dirigenten getrieben wurde.
Dann das Allegretto, zweiter Satz. Hier fand Downie Dear zu einer Meisterleistung. Dieses Allegretto geriet im allerbesten Sinne – nicht zu langsam, in schreitendem, leicht schwebendem Puls, dazu von bewundernswerter Klarheit. Die Musik atmete und flüsterte, getragen von einem Hauch Schwermut, der sich wie ein Schleier über das Thema legte, und doch schimmerte dahinter stets ein Hoffnungsschimmer hervor. Die berühmte Variationstechnik dieses Satzes – das allmähliche Intensivieren der repetitiven Rhythmen und das Hinzutreten immer weiterer Stimmen – gelang bis ins feinste Detail. Nichts war zu dick aufgetragen; der Klang blieb transparent und doch tief und dicht, wie ein Gewebe, das sich nach und nach verdichtet, ohne seine Elastizität zu verlieren. Man konnte förmlich hören, wie sich die musikalischen Wellen räumlich und geistig ausdehnten – der Saal füllte sich mit meditativer Spannung, und zugleich öffnete die Musik innere Räume bei jedem Einzelnen im Publikum. Dieser Satz wurde zum emotionalen Epizentrum der Sinfonie. Schon bei der Uraufführung 1813 war das Allegretto so beliebt, dass es sofort wiederholt werden musste – und an diesem Abend hätte man es sich ebenfalls am liebsten ein zweites Mal gewünscht. So kraftvoll, so überwältigend schön geriet diese Interpretation, ohne auch nur eine Sekunde ins Pathetische oder plakativ Überspitzte zu verfallen. Und dann das Ende: Downie Dear ließ den Satz in einem Hauch verklingen – in einem Pianissimo, zarter noch als der Beginn. Das letzte Verklingen der Streicher war so fein, dass man eine Stecknadel im Parkett fallen zu hören glaubte. Einen so vergeistigten, leise ersterbenden Schluss dieses Allegrettos hört man selbst bei den großen Orchestern selten. Hier trafen interpretatorische Idee und Ausführung vollkommen zusammen.
Das anschließende Scherzo (Presto) wiederum fuhr wie ein Wirbelwind ins Haus. Mit atemberaubender Präzision jagte das Orchester durch die kapriziösen Wechsel von Forte und Piano, von explosiver Energie und tänzerischem Spielwitz. Welch eine Spielfreude! Man sah förmlich die funkelnden Augen der Musiker, hörte das kollektive Ein- und Ausatmen in den ataktischen Pausen. Die Präzision der Einsätze, die Genauigkeit der vielen sforzati und Akzente – all das war kaum zu fassen. Das Ensemble zeigte eine ungeheure Geschlossenheit: selbst kleinste dynamische Abstufungen gelangen wie aus einem Guss. Der Klang blieb dabei voll und pointiert, nirgends zerfasert oder indifferent. Jeder der drei Scherzo-Durchgänge (Presto – Assai meno presto – Presto) hatte seinen eigenen farbigen Charakter, tänzerische Leichtigkeit hier, fast derbe Ausgelassenheit dort. Downie Dear trieb das Tempo auf die Spitze, doch das Orchester folgte ihm mit bewundernswerter Gelassenheit und Virtuosität – ein kühnes Unterfangen, das bravourös glückte.
Und schließlich der Finalsatz (Allegro con brio). Er begann in idealer Balance: Die Holzbläser intonierten ihr aufwärtsstrebendes Motiv lyrisch singend, die Geigen huschten mit federndem Laufwerk darunter her, die celli und Bässe pulsierten mit leichtem Fuß – man spürte die Vorfreude auf das, was kommen sollte. Die Bögen der Streicher schwangen förmlich durch die Luft, so elanvoll und doch elegant setzte das Orchester an. Es hätte das krönende Finale eines wahrhaft großen Beethoven-Abends werden können. Doch dann geschah es wieder: Mitten im rasant dahinstürmenden Verlauf schraubte der Dirigent die Kontraste künstlich ins Übermaß. Was eben noch wie entfesselter Tanz wirkte, wurde nun mit ungemein heftiger Geste herausgemeißelt. Zwar blieb die technische Ausführung makellos – das Ensemble verdient höchsten Respekt dafür, wie bedingungslos es auch hier dem Dirigenten folgte, jede seiner fordernden Gesten in Klang verwandelnd. Aber man fragte sich unwillkürlich, ob es der richtige Weg war. Denn so großartig viele Momente gelangen – wundersam etwa, wie zwischendurch immer wieder feine Details aufblitzten, kleine Nebenlinien, die Downie Dear liebevoll herausgearbeitet hatte – so sehr wurden diese Schönheiten im nächsten Augenblick von einer brachialen Fortissimo-Eruption überrollt. Der Dirigent spannte die dynamische Palette bis an die Grenzen, doch im Zuge dieser Steigerungswut ging dem Finale der innere Zusammenhang ein wenig verloren. Das musikalische Gefüge wurde in Extreme getrieben; am Ende drohte der rote Faden zu reißen, der die aufpeitschende Schluss-Stretta mit dem Vorangegangenen verbindet. Das Publikum indes riss es von den Sitzen: Mit dem letzten Akkord brach frenetischer Jubel los, Bravo-Rufe und begeistertes Klatschen füllten den Saal – verdienter Applaus für eine glanzvolle orchestrale Leistung und den Mut zu einer ungewöhnlichen Interpretation. Ich jedoch blieb, neben dem jubelnden Auditorium, etwas ratlos zurück. Trotz aller mitgerissenen Begeisterung mischte sich in meine Freude über die herausragenden Momente dieses Abends auch Nachdenklichkeit: War hier Geniales am Werk oder bloß Effekthascherei? Vielleicht beides zugleich. So endete ein Beethoven-Abend voller Höhepunkte und Fragezeichen – ein Erlebnis, das ebenso inspiriert wie irritiert und gerade in seiner Ambivalenz noch lange nachhallen wird.
Die eigentliche Kritik endet an dieser Stelle – wer sich darüber hinaus noch vertiefenden Überlegungen zum Werk widmen möchte, findet sie im Folgenden.
Beethovens Siebte ist wie ein merkwürdiges Wesen: Sie gehört zu den bekanntesten Sinfonien überhaupt und bleibt doch zugleich rätselhaft, als würde sie sich mit jedem Hören erneut entziehen. Kein Programm, keine Worte, keine erklärende Überschrift – und dennoch drängt sich der Eindruck auf, hier sei etwas über das Menschsein selbst gesagt. Nicht in belehrenden Sätzen, sondern in rhythmischen Erschütterungen, in Bögen von Spannung und Entladung, in einem Sog, der Körper und Geist gleichzeitig erfasst. Man hat sie eine Apotheose des Tanzes genannt, doch der Begriff greift zu kurz: Es ist eher ein Ringen darum, den Pulsschlag des Lebens hörbar zu machen, wenn Geschichte, Leid und Hoffnung im Inneren eines Menschen und einer ganzen Epoche aufeinanderprallen.
Schon der erste Satz wirkt wie das feierliche Zusammenrufen einer Gemeinschaft, die noch nicht weiß, weshalb sie sich versammelt – nur dass sie es tun muss. Das Poco sostenuto hebt an wie ein feierlicher Schritt auf offenem Platz: mächtige Akkorde, getragen, Schritt für Schritt, als würde eine unsichtbare Ordnung beschworen. Die Bläser antworten, Linien steigen und fallen, und der Raum füllt sich langsam mit Erwartung. Noch geschieht nichts, und doch ist alles bereits angelegt: die Spannung zwischen Ruhe und Drängen, zwischen Maß und Überschwang, zwischen individueller Stimme und kollektiver Bewegung. In dieser Einleitung formiert sich gewissermaßen die Idee einer gemeinsamen Welt, die sich im folgenden Vivace in Bewegung setzen wird.
Wenn das Vivace losbricht, ist es, als würde jemand plötzlich die Schleusen öffnen. Ein kleiner rhythmischer Baustein – ein unermüdlich pochender Impuls – ergreift das gesamte Orchester. Die Musik beginnt nicht einfach, sie setzt sich in Gang, sie läuft, rennt, taumelt fast vor Energie. Hier tritt eine zentrale Erfahrung zutage: Freiheit erscheint nicht als statischer Zustand, sondern als Bewegung, als unaufhaltsamer Prozess. Der Mensch ist in diesem Klangraum kein stiller Betrachter des Weltgeschehens, sondern hineingezogen in einen Tanz, der ihn übersteigt und doch aus ihm selbst stammt.
Das Orchester ist dabei kein Heer gleichgeschalteter Stimmen. Immer wieder treten einzelne Instrumentengruppen hervor, lösen sich kurz aus dem gleichmäßigen Puls, zeichnen melodische Linien, die aufleuchten wie Gedanken, Zweifel, Hoffnungsschimmer inmitten des kollektiven Rauschens. Dann kehren sie zurück in den großen Strom. So entsteht ein Bild des Menschen, der nicht verschwindet in der Masse, sondern seine Eigenart gerade innerhalb des Gemeinsamen entfaltet. Die Siebte erzählt im ersten Satz von einer Freiheit, die nicht Abschottung meint, sondern das riskante, aber beglückende Miteinander.
Der zweite Satz, das Allegretto, schlägt daraufhin eine radikal andere Farbe an, ohne die innere Bewegung aufzugeben. Die weltberühmte, in dunklen Streichern ansetzende Figur schreitet wie ein endloser Zug. Kein pathetischer Trauermarsch, sondern eher ein nach innen gewandter Gang durch einen Raum aus Erinnerung und Verletzlichkeit. Die Musik schreitet voran, doch sie schleift nichts mit sich, sie verweilt in ihrem Schritt; jedes Wiederholen des rhythmischen Motivs wirkt wie ein neuer Anlauf, das Unbegreifliche des menschlichen Leidens zu fassen – und dennoch nicht im Klagegestus stecken zu bleiben.
In den Schichtungen dieses Satzes – wenn sich aus der düsteren Grundfigur plötzlich ein heller, fast tröstlicher Klangraum erhebt, wenn die Holzbläser wie Lichtfenster in ein verschattetes Gemäuer eingeschnitten werden – bahnt sich ein Gedanke an, der zutiefst humanistisch ist: Schmerz ist kein bloß individuelles Schicksal, sondern wird, sobald er geteilt wird, in etwas Verwandlungsoffenes geführt. Die Musik vollzieht diese Verwandlung nicht naiv; sie verschweigt das Dunkel nicht, sie trägt es mit, aber sie lässt es nicht das letzte Wort haben. Wenn die anfängliche Gestalt wiederkehrt, wirkt sie verändert, als habe sie auf dem Weg durch die sanft erhellten Zwischenräume etwas von Starrheit und Verzweiflung abgelegt. Es ist, als würde Beethoven hier eine Ethik des Mitgefühls in Klang formen: Nicht die Auslöschung des Schmerzes, sondern die Hinwendung, die ihn trägt.
Nach dieser ernsten, beinahe kontemplativen Prozession bricht das Scherzo herein wie ein elementarer Gegenentwurf. Das Presto ist ein wild aufflammender, übermütiger Aufschwung, voller Sprünge, überraschender Akzente, abrupter Wendungen. Hier scheint der Mensch die Schwere des Daseins abzustreifen, nicht durch Verdrängung, sondern durch einen Überschuss an Lebendigkeit. Das Leben in seiner ungebändigten Form meldet sich zu Wort – ländlich, fast derb, von einer Vitalität, die auch das Lachen, das Stolpern, das Übertreiben umfasst.
Dem gegenüber steht das Trio wie ein aufgerissenes Fenster in eine andere Dimension: weit, hymnisch, fast sakral. Es ist, als würde sich hinter der ausgelassenen, beinahe schelmischen Oberfläche des Scherzos ein Raum eröffnen, der an etwas Durchlichtetes, Größeres erinnert – an Natur in ihrer Weite, an eine Ordnung, in der der Mensch nicht Zentrum, sondern Teil ist. Die mehrfach verschachtelte Abfolge Scherzo–Trio–Scherzo–Trio–Scherzo wirkt wie das Hin- und Herschwingen zwischen diesen beiden Welten: dem überschwänglichen Hier und Jetzt und einem in die Höhe geöffneten Dort, das mehr ist als bloßes Jenseits. Beethoven zeichnet so ein Menschenbild, das weder im ausgelassenen Augenblick noch in der feierlichen Erhabenheit allein aufgehen kann. Der Mensch ist beides: lachend und suchend, taumelnd und zugleich von einer unstillbaren Sehnsucht nach Sinn durchzogen.
Der Finalsatz, Allegro con brio, scheint schließlich alles, was zuvor angedeutet und erprobt wurde, in eine letzte Eskalation der Bewegung zu treiben. Hier wird der Tanz, der in der Einleitung zaghaft als Möglichkeit aufschien, zur entfesselten Wirklichkeit. Die Themen rasen, Akkorde peitschen, die Rhythmik treibt das Orchester an den Rand des Möglichen. Man hat immer wieder von „Rausch“ gesprochen, doch auch dieses Wort ist zu harmlos, wenn man die innere Spannung dieses Klangsturms ernst nimmt. Es ist ein Rausch, der sich seiner eigenen Gefährdung bewusst ist. Hinter der triumphalen Strahlkraft lauert die Ahnung, dass jede Grenze, die so vehement überschritten wird, auch in den Abgrund führen könnte.
Gerade darin liegt eine bemerkenswerte Größe dieses Satzes: Er bietet keine harmlose Apotheose, keine glatte Apotheke der guten Gefühle, sondern ein riskantes Spiel mit den Kräften der Begeisterung. Die Energie, die hier mobilisiert wird, ist dieselbe, die Menschen zu großen Taten befähigt – und sie zugleich in zerstörerischen Taumel treiben kann. Beethoven führt diese Ambivalenz nicht aus wie ein Dozent, er spricht kein warnendes Wort; aber der Sturm dieser Musik ist so unerbittlich, dass sich die Frage nach Maß und Grenzüberschreitung von selbst stellt.
Der Schluss, so triumphal er klingt, wirkt daher nicht nur wie ein Siegesjubel, sondern auch wie ein atemloses Überleben: Man hat es bis hierher geschafft, die Kräfte haben gehalten, das Orchester bricht nicht auseinander, die Struktur bleibt, die Form trägt. Doch im Nachhall bleibt eine Art staunender Erschöpfung zurück, als hätte man Zeuge eines Experiments am äußersten Rand menschlicher Leistungsfähigkeit und Hingabe werden dürfen – nicht nur der Musiker, sondern des Menschenbildes, das diese Musik entwirft.
Nimmt man die Sinfonie als Ganzes, so entsteht ein weiter Bogen: vom feierlichen Zusammenrufen einer Gemeinschaft über das geteilte Gedenken an Leid, die ausgelassene, aber gebrochene Lebenslust bis zur ekstatischen, beinahe überschießenden Behauptung des Daseins. Es gibt kein ausformuliertes Bekenntnis, kein im Libretto festgehaltenes Programm. Und doch wirkt dieses Werk wie ein klingender Entwurf des Menschen als eines Wesens, das sich nicht mit bloßem Überleben zufriedengibt. Es will tanzen, auch wenn der Boden, auf dem es sich bewegt, von den Rissen der Geschichte durchzogen ist. Es will hoffen, obwohl es um das Dunkel weiß. Es will gemeinsam sein, ohne die Besonderheit des Einzelnen zu vernichten.
Man muss sich vergegenwärtigen, in welchem Kontext diese Klänge entstanden sind: Kriege, Umbrüche, der brüchige Traum politischer Befreiung, die zunehmende Vereinsamung eines Komponisten, der sein Gehör verliert und seine Welt mehr und mehr nach innen verlegt. Umso bemerkenswerter ist die Radikalität, mit der Beethoven hier auf die Kraft der Bewegung, des Rhythmus, des gemeinsamen Pulsschlags setzt. Wo Worte versagen, wo politische Programme scheitern, schickt er ein Orchester in den Raum, das durch seine reine Klangexistenz eine andere, humanere Ordnung erprobt: eine Ordnung, in der niemand stumm bleibt, in der aus dunklem Schreiten geteiltes Mitgefühl wird, aus ausgelassener Spielfreude ein ahnendes Sich-Öffnen und aus ekstatischer Energie eine riskante, aber großartige Bejahung des Lebens.
So lässt sich die Siebte hören als ein großes Experiment, wie viel Menschlichkeit ein Klangkörper auszuhalten vermag. In ihr steht der Mensch weder als Held auf einem Sockel noch als Opfer im Staub – er ist unterwegs, in Bewegung, in der Spannung zwischen Einsamkeit und Gemeinschaft, Schmerz und Überschwang, Maß und Entgrenzung. Dass all dies ohne ein einziges Wort, allein durch Töne, Rhythmen und Formen sagbar wird, ist vielleicht ihr tiefstes Geheimnis. Und gerade darin liegt jene stille, unbeirrbare Zuversicht, die aus dieser Sinfonie spricht: dass der Mensch, bei aller Gefährdung, doch fähig ist, sich selbst zu übersteigen, indem er sich mit anderen ins Schwingen bringt – in einen Tanz, der nicht bloß unterhält, sondern eine Ahnung davon gibt, wie eine menschlichere Welt klingen könnte.
Autor:Marko Cirkovic aus Durlach |
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