Und sie blickte in eine dunkle Welt
Iolanta an der Wiener Staatsoper

- Foto: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
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Es gibt Werke, die nicht bloß eine Handlung erzählen, sondern eine innere Verwandlung hörbar machen: Iolanta ist eines von ihnen. In diesem Einakter, den Tschaikowski mit einer bei ihm seltenen Konzentration der Mittel und einer fast gläsernen Ökonomie formte, wird Sehen zum Sinnbild des Erwachens – nicht als optischer Vorgang, sondern als Erhellung des Inneren. Von Beginn an spannt die Partitur einen Bogen von tastender Nacht zu verheißungsvollem Tag; Linien steigen auf, Harmonien klären sich, die Instrumentation schält, als würde sie Schleier lüften. Das Ziel ist nicht Erkenntnis als Begriff, sondern das leise, unwiderrufliche Umschlagen des Empfindens in Helligkeit. Wer diese Musik auf die Bühne stellt, muss daher den Mut besitzen, das Licht zu meinen – nicht nur als Beleuchtung, sondern als Zustand.
Evgeny Titov wählt für die Wiener Staatsoper einen anderen Weg. Seine Inszenierung ist ohne Frage schön anzusehen, ja, sie besitzt die geschmackvolle Stille eines sorgsam komponierten Bildes; die Personenführung ist klug, die menschlichen Beziehungen sind lesbar und unaufdringlich ausgearbeitet. Doch bleibt der Abend, bei aller ästhetischen Gefälligkeit, an der Oberfläche dessen, was Tschaikowski freilegt. Vor allem das Ende wiegt schwer. Wenn Iolanta endlich sehen kann und ihr erster Blick auf eine düstere Welt fällt, verschiebt sich der Sinn des Ganzen: Das Versprechen der Helligkeit, der Erleuchtung wird in Frage gestellt, aus dem Geschenk wird Bürde. Es ist, als verrate die Bühne das Herz der Partitur, die doch um das Licht kreist und nicht um die Finsternis. Der letzte Takt klingt dann nicht wie ein Aufatmen, sondern wie eine Korrektur – und diese Korrektur steht dem Werk schlecht zu Gesicht.
Umso strahlender und zwingender die musikalische Seite des Abends. Timur Zangiev entfaltet am Pult der Wiener Staatsoper eine Lesart, die zugleich kompromisslos analytisch und sinnlich überwältigend ist. Gleich zu Beginn markiert er die Bläser scharf und akzentuiert, nicht brutal, aber ohne Schonung – ein Aufriss der Tektonik, ein Sichtbarmachen des tragenden Gebälks. Kaum ist diese Struktur freigelegt, lässt Zangiev das erste Tableau „butterweich“ aufgehen: die Streicher atmend, die Holzbläser mit jenem feinen, fast vokalen Legato, das in Wien Tradition hat. Über den Abend hinweg organisiert er Kontraste von exemplarischer Klarheit: Verdichtung gegen Entlastung, räumlich komponierte Dynamik statt bloßer Lautstärke, innegehaltene Spannung im genau richtigen Moment. Man spürt, wie er dieses Werk seziert, auseinander nimmt, seine Gelenke zeigt – und es dann wieder zusammensetzt zu einer Klanggewalt, die nicht dröhnt, sondern leuchtet. Das Staatsopernorchester folgt ihm millimetergenau; Einsätze sind wie mit dem Skalpell gesetzt, das rubato lebt, ohne je manieriert zu werden, und die Balance zwischen Bühne und Graben bleibt auch im großen Ensemblefinale vorbildlich.
Zangievs Zugriff macht zudem hörbar, wie subtil Tschaikowski in Iolanta arbeitet. Die Musik ist zwar formal in Nummern gegliedert, aber durchkomponiert gedacht: Übergänge verschleifen, Rezitativisches geht in Arioso über, Duett und Ensemble entstehen organisch aus dem Dialog. Leitend ist weniger ein motivisches System als eine Tonaldramaturgie, die sich – so wirkt es in dieser Lesart – Schritt für Schritt aufhellt, bis sie im strahlenden C-Dur des Schlusses ihr Ziel erreicht. Zangiev modelliert diese Aufhellung, indem er die Klangfarben klug staffelt: gedämpfte Streicher und gedunkeltes Blech, wenn Blindheit als Zustand erklingt; harfennahe Transparenz und silbrige Holzbläser, wo Hoffnung beginnt; weit geöffnete Hörner und ein elastischer, nie plumper Apparat des Blechs, wenn Erkenntnis sich Bahn bricht. Selbst die rhythmische Rhetorik wird Teil dieser hellen Pädagogik: das tastende Pianissimo, das nicht schüchtern ist, sondern lauschend; das entfesselte Forte, das nie prahlt, sondern nur den Raum für das Licht schafft.
In dieses sorgfältig gezeichnete Feld stellt sich die Besetzung mit deutlich profilierten Konturen. Dmytro Popov ist ein Vaudémont von seltener Wahrhaftigkeit. Sein Tenor, farbig und von einem edlen Kern getragen, phrasiert mit einer Linienhaftigkeit, die dem Atem der Musik vertraut wie ein zweiter Puls. Er kratzt nicht an der Oberfläche der Figur, er lebt sie; jede Wendung ist beseelt, und sein Liebesbekenntnis gewinnt jene glühende Einfachheit, die bei Tschaikowski das höchste Raffinement ist. Ebenso überzeugend Boris Pinkhasovich als Robert: der Bariton von straffer Präsenz, das Wort stets sinntragend, die großen Bögen mit sicherem Instinkt geführt. Hier ist ein offenkundig tiefes Textverständnis am Werk, das die Rolle nicht illustriert, sondern auslegt.
Ivo Stanchev als René braucht einen Moment, bis er im Zentrum seines Fachs ankommt – kleine Unsicherheiten in der Höhe trüben den Anfang. Doch dann entfaltet er die Figur des Vaters mit glaubwürdiger Innenspannung und beeindruckender stimmlicher Wucht. In seinen besten Passagen verbindet sich die natürliche Autorität des Königs mit jener Zärtlichkeit, die diese Oper zum Leuchten bringt. Und Attila Mokus als Ibn-Hakia wird zum Hoffnungsträger des Abends: Er trägt die Idee des Lichts in die Szene, ohne Gloriole, mit sanftem Timbre und einer in sich ruhenden Würde. Seine erste große Arie gelingt ihm mit einer Mischung aus stiller Überzeugung und nobler Weite; man spürt, wie die Musik an diesem Punkt nicht behauptet, sondern überzeugt.
Anders die Titelpartie. Elena Stikhina, kurzfristig für Sonya Yoncheva eingesprungen, besitzt eine Stimme von beträchtlicher Schönheit: jugendlicher Sanftmut im Timbre, ein berückender, oft gläserner Schimmer in der Höhe, sauber gesetzte Akzente. Doch diese Vorzüge tragen den Abend nicht. Ihre Iolanta bleibt seltsam unberührt von der inneren Reise, die die Partitur vorschreibt. Vieles klingt – bei aller klanglichen Anmut – belanglos, als bliebe die Geste an der Oberfläche hängen. Die Linien werden schnörkellos gezeichnet, aber selten mit jenem langen Atem, der Sinn in Richtung verwandelt; die Nuancen, die Zangiev im Graben freilegt, finden auf der Bühne nicht ihr Echo. Mag die Spontaneität des Einspringens eine Rolle spielen, oder auch die offensichtlich fehlende Routine, die man in einer solchen selten gesungen Rolle hat – entscheidend ist, dass die Figur emotional nicht geöffnet wird. In Momenten, in denen Wahrheit plötzlich ins Bewusstsein fällt, bleibt Stikhina nahezu gleichmäßig schön statt durchsichtig und verletzlich. So fehlt dem Abend in der Mitte jener magnetische Sog, der die äußere Handlung in inneres Schicksal verwandelt.
Das übrige Ensemble fügt sich solide. Simonas Strazdas bleibt als Almerik relativ schwach; Simon Daniel Jenz erfüllt den Bertrand „okay“, ohne Konturverlust, aber auch ohne Nachdruck. Monika Bohinec als Marta startet mit Textunsicherheiten, findet jedoch zu einem warmen, tragfähigen Ton. Maria Nazarova (Brigitta) und Teresa Sales Rebordão (Laura) ergänzen das Klangbild kultiviert und zuverlässig. Der Chor der Wiener Staatsoper schließlich verdient deutliche Anerkennung: homogen, präzise, mit jener edlen Grundierung, die Tschaikowskis Ensembleblöcken Würde und Schub verleiht.
Gerade weil das Musizieren so exemplarisch differenziert gelingt, fällt der inszenatorische Schlusspunkt desto schwerer. Iolanta ist, musikalisch gesehen, ein Wegstück aus Schatten in Helligkeit, und dieser Weg ist in Tönen so eindeutig gezeichnet, dass er am Ende nicht ins Zwielicht führen darf, ohne das Werk umzudeuten. Titovs Entscheidung, die ersten Augenblicke des Sehens in Düsternis zu tauchen, negiert die innere Logik der Partitur. Wo Tschaikowski das Leuchten vorbereitet – mit aufgehellter Harmonik, mit geöffneten Klangräumen, mit jener beruhigten Pulsierung, die wie ein inneres Lächeln klingt –, setzt die Regie ein Fragezeichen. Das kann man als Gegenwartskommentar lesen; der Preis ist hier jedoch hoch: Das Herzstück des Abends, das Versprechen der Erleuchtung, verliert sich.
Und doch bleibt die Erfahrung dieses Abends nicht zwiespältig, sondern zweifach: Zangievs Dirigat und das hochkonzentrierte Spiel des Staatsopernorchesters zeigen, mit welcher Klarheit und Feinheit diese Partitur sprechen kann; Popov, Pinkhasovich, Stanchev und Mokus lassen Figuren entstehen, die berühren. Dem gegenüber steht eine Iolanta, die klangschön bleibt, aber innerlich verschlossen, und eine szenische Erzählung, die das Licht scheut, das Tschaikowski ihr schenkt. Vielleicht liegt darin ein Lehrsatz für zukünftige Abende: Iolanta verlangt, dass man an die Erleuchtung glaubt. Sonst sieht man nur – und erkennt doch nicht.
Autor:Marko Cirkovic aus Durlach |
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