Parabel auf den Verlust des Transzendenten
Tobias Kratzers Rheingold an der Staatsoper München
- Eine der Rheintöchter verwandelt sich durch Magie in ein Tier
- Foto: Geoffroy Schied
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Kaum waren die Lichter verloschen, entfaltete sich etwas Ungewöhnliches, Vladimir Jurowski ließ das Rheingold tatsächlich in völliger Dunkelheit beginnen. Ohne Notenbeleuchtung intonierte das Bayerische Staatsorchester die berühmten ersten Takte des Vorspiels auswendig – nur ein Taschenlampenlicht glomm am Arm des Dirigenten. In dieser absoluten Finsternis erhob sich der mitreißende Urklang des Rheins in Es-Dur wie aus dem Nichts und zog mich augenblicklich in seinen Bann. Jurowski wählte dabei ein überraschend zügiges Tempo; Wagner mag ein Romantiker sein, doch jeglicher überschüssige Schmelz wurde an diesem Abend konsequent abgetragen. Diese fokussierte, straffe Lesart besaß ihren eigenen Reiz und eine stringent-dramatische Ästhetik. Allerdings sorgte die vorwärtsdrängende Gangart auch dafür, dass manch großer Augenblick etwas beiläufig vorüberzog: Als Alberich etwa das Rheingold „Rasch da“ zu sich ruft und das Orchester normalerweise zu maximaler Lautstärke aufbraust, geriet dieser klimaktische Moment unter Jurowskis Dirigat eher knapp und unspektakulär. Nichtsdestotrotz musizierte das Orchester auf allerhöchstem Niveau; Jurowskis Interpretation bot deutlich Neuartiges und fügte sich erstaunlich gut in die Inszenierung ein, welche eine gottlose, freudlose Welt zeichnet – und traf damit letztlich genau den Nerv unserer Zeit.
Tobias Kratzer entwirft eine Parabel auf den Verlust des Transzendenten, in der heilige Zeichen nur noch Kulisse sind. Das gesprühte „GOTT IST TOT“ markiert den Nullpunkt jeder Glaubensgewissheit: Tempel sind Ruinen, Rituale Hohlformen. Folgerichtig erscheinen die Rheintöchter nicht als kokette Wasserwesen, sondern als Teenager-Hexen, die ihren okkulten Trotz gegen jede Sakralität richten. Ihr Spiel mit dem Gold verkommt zum profanen Hexensabbat, bei dem sie die Reste des Altars mit schwarzer Magie entweihen. Als Alberich eine der Hexen brutal verletzt und den Schatz raubt, kippt Wagners Naturmythos in modernes Horror-Fantasy: Gewalt ersetzt Eros, Zauberei wird zur unterdrückten Gegenmacht, der Rhein selbst zum Albtraum aus Blut und Hass.
Walhall erscheint daraufhin als dystopisches Kirchenschiff einer Zukunft ohne Glauben. Wotan, konservativ kostümiert wie ein Monarch aus der Mottenkiste, herrscht zwischen Baugerüsten und Planen, die nur noch den Anschein von Sakralraum erzeugen. Die Riesen Fasolt und Fafner sind hier fundamentalistische Priester, die den maroden Glauben mit hohler Liturgie restaurieren wollen; Freia dient ihnen als jugendliches Faustpfand. Loge stößt als aalglatter Freikirchen-Prediger hinzu, ein Rattenfänger, der den Ring als neuen Heilsbringer verkauft. Sein Pop-Charisma überdeckt die Leere, die alle Figuren teilen.
Im Untergrund inszeniert Kratzer Alberichs Reich als Cyber-Terrorzelle radikaler MAGA/Reichsbürger-Verschnitt: Waffenstapel, Bildschirme und Computer verschmelzen zu einer toxischen Verschwörungsästhetik. Der Ring wird hier zum Betriebssystem eines globalen Coups, die Tarnkappe zur Unsichtbarkeit im Darknet. Die Verwandlung in den feuerspeienden Wurm ist wie ein Endzeit-Comic, doch die Pointe liegt in der nächsten Szene: Auf der Videowand sehen wir Loge und Wotan im Flugzeug, wie sie die winzige Kröte in einer Tupperdose durch die Sicherheitskontrolle schmuggeln – ein Slapstick über Allmachtsfantasien, die sich auf Supermarktplastik verengen. Erst nach der Landung, bei der Rückverwandlung, entreißt Loge Alberich den Tarnhelm; jetzt ist er nackt, erniedrigt und seiner Hybris beraubt – der Moment, in dem die Demütigung ihre volle Wucht entfaltet.
Erda erscheint hier als eine Art Nonne, letzte Verkörperung authentischer Spiritualität. Ihr trancehaftes Gebet zwingt Wotan, den Ring freizugeben: eine genuine Vision, die sich gegen das Event-Gerümpel der Kulissen stemmt. Doch Alberichs Fluch hat das Gefüge längst zerstört; Fafner erschlägt Fasolt, und der Blutrausch enttarnt die ganze Kirchen-Kulisse als Scheinglanz.
Im Schlussbild fällt das Gerüst, der Altar strahlt gleißend, und ein neugieriges Straßenpublikum strömt in die kathedralenhafte Oper wie in ein Instagram-Museum. Wotan posiert als Rettergott, doch die Rheintöchter – als Hexen tief verwurzelt in naturmagischer Kraft – empfinden jede Kirchlichkeit als lebensbedrohliche Fremde. Aus moralischer Abscheu, und aus instinktivem Unbehagen gegenüber diesem »geweihten« Raum flüchten sie, während Wotan die Menge mit falschem Licht blendet. Damit schlägt Kratzer einen Starken Bogen. Die Götter feiern einen Triumph, der sofort in Fäulnis umschlägt, während die Hexen-Schwestern verschwinden und im Dunkel das ferne Grollen des Rheins erneut vernimmt: ein unheilvolles Echo, das den nahenden Untergang bereits feierlich in sich trägt.
Was Nicholas Brownlee als Wotan bot, grenzte an eine vokale Urgewalt. Noch nie habe ich in Rheingold einen derart starken und präsenten Göttervater erlebt. Abgesehen von seinem makellosen Deutsch beeindruckte Brownlee mit einer wunderbar klaren, leicht metallisch glänzenden Stimme, die zugleich kraftvoll und kultiviert geführt war. Seine Interpretation war hochästhetisch ausgestaltet und absolut textbewusst – jede Phrase hatte Gewicht. Man spürt, dass hier ein vergleichsweise junger Bassbariton am Werk ist, der bereits eine besondere Beziehung zu dieser Partie entwickelt hat. Auch wenn Das Rheingold nur der Vorabend des Rings ist, scheint Brownlee schon jetzt auf dem besten Wege zu sein, einer der ganz Großen seines Fachs zu werden. Seiner kommenden Walküre nächstes Jahr sehe ich jedenfalls mit großen Erwartungen entgegen.
Sean Panikkar als Feuergott Loge sang mit präsenter, angenehm timbrierter Tenorstimme und füllte den Raum mühelos. Dennoch empfand ich seinen Loge stimmlich als etwas zu glatt und konturlos. Die Zwielichtigkeit, die dieser Figur innewohnt und die Wagners Partitur eigentlich vorgibt, fehlte mir: Das hintergründig Intrigante spiegelte sich kaum in seiner vokalen Farbpalette. So entstand Loges Doppelspiel an diesem Abend eher durch Panikkars Spiel und physische Präsenz als durch den Stimmcharakter.
Dem gegenüber stand Martin Winkler als Alberich. Darstellerisch agierte er auf allerhöchstem Niveau – jede Geste und Miene saß – und auch eine nuancenreiche Stimmführung konnte er vorweisen. Gelegentlich stieß Winkler zwar in der Höhe und in puncto Durchschlagskraft an Grenzen, doch insgesamt gab er einen glaubhaft bedrohlichen Nibelungenfürsten, der in Fluch und Verbitterung sehr überzeugte.
Matthias Klink wiederum lieferte einen fulminanten Mime. Mit charaktervoll gefärbter Stimme und präziser Diktion verlieh er Alberichs unglücklichem Bruder prägnantes Profil. Ich persönlich hätte Klink allerdings noch lieber in der Rolle des Loge erlebt – als Mime bewies er so viel darstellerische Präsenz und stimmliche Ausdruckskraft, dass er auch als listiger Feuergeist eine Idealbesetzung gewesen wäre.
Die übrigen Götterfiguren hinterließen eher gemischte Eindrücke. Milan Siljanov präsentierte sich als Donner zunächst mit kräftigem Bariton, doch insgesamt fehlte es seiner Interpretation etwas an geschmeidiger Linienführung und vor allem an der letzten vokalen Durchschlagskraft in seinem entscheidenden Donnerruf. Ian Koziara blieb als Froh trotz seines lyrischen Tenors blass; selbst in seinen kurzen Passagen konnte er sich gegen das Orchester kaum behaupten.
Ekaterina Gubanova brachte als Fricka zwar einen edlen Mezzosopran und auch einige ausdrucksstarke Tiefen mit, hatte jedoch an diesem Abend Mühe, sich wirklich durchzusetzen. Mirjam Mesak verfügte als Freia über einen jugendlich hellen Sopran, dem es jedoch an Ausdruckstiefe mangelte. Ihre Stimme vermochte nur selten Akzente zu setzen und ging in der Ensemblefülle unter.
In den Rollen der Riesen Fasolt und Fafner sorgten Matthew Rose und Timo Riihonen für vokale Fundamentalkraft. Beide Bassisten sangen auf sehr hohem Niveau – kräftig, klangschön und mit beeindruckender Präsenz. Ihre voluminösen Stimmen verliehen den Giganten die gebührende Wucht, ohne an Klarheit der Diktion oder Tonschönheit einzubüßen.
Wiebke Lehmkuhl hinterließ als uralte Erda trotz ihres kurzen Auftretens einen nachdrücklichen Eindruck. Selten habe ich eine derart mächtige und zugleich so klar und edel timbrierte Altstimme in dieser warnenden Partie vernommen. Ihre Mahnung an Wotan geriet zu einem Moment von nahezu hypnotischer Autorität und zeitloser Würde.
Für einen betörenden Schlussakzent sorgten schließlich die drei Rheintöchter (Sarah Brady, Verity Wingate und Yajie Zhang). Mit jugendlich-frischen, klar schillernden Stimmen sang dieses Terzett ebenso präzise wie anmutig. Ihre Klage zum Finale glänzte in glasklarer Intonation und wunderbarem Ensembleklang – ein zauberhafter Abschluss, der den düsteren Einzug der Götter nach Walhall eindrucksvoll kontrastierte.
- Demonstrantin
- Foto: Marko Cirkovic
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Als die letzten Akkorde des Rheingoldes verklangen und das Publikum aus der marmorgekühlten Vorhalle der Staatsoper in die nächtliche Max‐Joseph‐Platz‐Szenerie hinaustrat, stießen sie auf ein ebenso grell kontrastierendes wie bizarr getaktetes Nachspiel: Vor den Absperrgittern scharrte sich eine kleine Pro-Palästina-Kundgebung, deren Slogans von polterndem Rhythmus begleitet wurden – Töpfe wurden mit Löffeln traktiert, wie ein Hammer schlug im Sekundentakt auf einen mitgebrachten Amboss, als wollte man den nächtlichen Platz selbst in einen Schmiedeofen verwandeln. Inmitten des pochenden Gelärms reckte eine junge Frau, das Haar von einer Baseballkappe beschattet und die Schultern von einem Kufiya‐Tuch umrahmt, ein handbeschriebenes Pappschild in die Luft, auf dem in dicken schwarzen Lettern die Anklage prangte: „Dear Germans, don’t wash your white guilt with Palestinian blood.“ Der absurde Klangteppich, halb Küchenkabarett, halb Kriegsgerassel, verlieh der Szene eine unfreiwillige Komik; doch hinter der kakophonischen Groteske schimmerte eine finstere Erosion der Gesprächskultur hervor. In der überlauten Einfachformel des Schilds verdichtete sich, was auf den Töpfen schon einträchtig widerhallte: Es gibt nur noch das eine Licht der moralischen Selbstgewissheit und die eine Dunkelheit des Gegners. Nuancen lösen sich im Lärm auf, Differenzierung wird weggeschmiedet wie Schlacke. So hallte draußen, auf offener Straße, dieselbe Frage nach dem Verlust des Maßes wider, die drinnen auf der Bühne schon die Götter in den Abgrund geführt hatte – nur dass die Ambosse diesmal real waren und der Lärm keine Metapher, sondern ein pulsierendes Signal der Verrohung, das noch lange nachklang, während sich der Platz allmählich leerte.
Autor:Marko Cirkovic aus Durlach |
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