Jonathan Tetelman singt nicht laut, er singt wahr
Eine denkwürdige Tosca an der Wiener Staatsoper

Foto: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
3Bilder
  • Foto: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
  • hochgeladen von Marko Cirkovic

Der Abend setzte ein wie ein langsames Beben. Aus dem Graben hob sich ein Klang, der Gewicht hatte und doch Atem ließ, als lege er den Grund für alles Kommende. Pier Giorgio Morandi stand am Pult nicht als selbstgefälliger Lenker, sondern als leiser Architekt der Verhältnisse. Er machte die Partitur weit, nicht laut; er ließ sie sprechen, ohne sie zu verraten. Wo Puccini Raum fordert, gab er Raum, wo er Druck verlangt, bündelte er die Kräfte. So entstand diese seltene Balance, in der das Orchester sich nicht in den Vordergrund stellt und auch nicht nur Kulisse ist, sondern Handlungspartner – und doch niemals das Wort der Sänger überblendet. Schon in den ersten Takten mit dem düsteren Scarpia-Komplex markierte Morandi eine klare Dramaturgie: Spannungen nicht ausbreiten, sondern formen, Steigerungen nicht herausschreien, sondern organisch wachsen lassen. Das Haus hörte zu. Ich hörte zu. Und ich spürte von Beginn an ein Einverständnis zwischen Graben und Bühne, das den Abend tragen sollte.

Ludovic Tézier betrat als Baron Scarpia den Raum mit jener gefährlichen Noblesse, die nur wenige Sänger glaubhaft in Klang übersetzen. Ja, in den allerersten Momenten schien der aristokratische Schliff fast zu glatt, als trüge der Bösewicht noch höfliche Handschuhe. Die Handschuhe fielen rasch. Schon im Verlauf des ersten Aktes intensivierte sich der Ton, wurden die Phrasen kantiger, der Subtext scharf. Téziers Timbre ist Luxusmaterial, aber es wird hier nicht ausgestellt, es wird geformt. Er trägt die Worte auf der Linie, als seien sie Schneiden, und er setzt sie nicht wahllos, sondern mit böser Präzision. So wächst seine Präsenz, ohne dass die Lautstärke nachhelfen müsste. Im Te Deum ballt sich das Edle zum Furchtbaren, das fromme Tableau wirkt wie eine Goldfassung, die die Gewalt erst recht glänzen lässt. Das ist nicht der grob polternde Despot, sondern der kultivierte Tyrann, dessen Kälte atemlos macht. Im zweiten Akt erreicht diese Zeichnung eine erschreckende Stringenz: jede Zäsur, jede agogische Neigung dient dem Zwang, jede dynamische Färbung macht die Falle enger. In der Folterszene, wo die Musik den Puls im Orchester spürbar macht, lässt Tézier die Stimme nicht zu einem einzigen großen Effekt anschwellen, er verdichtet sie – aus der höflichen Form wird dunkler Wille. Als Tosca ihn niederschlägt, spürt man nicht Mitleid, aber man spürt, dass eine spannende Untersuchung unterbrochen wird. Man hätte gern noch tiefer in diesen Abgrund gehört. Dass man so denkt, spricht nicht für Scarpia. Es spricht für Tézier.

Foto: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
  • Foto: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
  • hochgeladen von Marko Cirkovic

Elena Stikhina ist eine Tosca, die nicht mit Deklaration beginnt, sondern mit Menschlichkeit. Ihre Stimme schimmert hell und durchdringt den Raum, ohne je scharf zu werden; die Höhe öffnet sich rein, die Mittellage leuchtet weich, der Atem steht sicher hinter der Linie. Entscheidend aber ist die Haltung: Sie macht Toscas Verletzlichkeit hörbar, ohne sie klein zu spielen. So wird die frühe Unsicherheit in der Kirche nicht Kaprice, sondern echte Emotionalität. Und das hat Folgen. Die oft diskutierte „Schwäche“ gegenüber Scarpia erscheint hier nicht als dramaturgischer Kompromiss, sondern als plausible Reaktion einer empfindsamen Person auf eine Übermacht, die mit moralischem Sadismus auftritt. Der Verrat an Angelotti wird in dieser Lesart verständlich: Er ist die Spitze eines psychischen Drucks, nicht Laune. Stikhina singt das nicht mit Zittern, sondern mit innerer Spannung. Wenn sie im zweiten Akt „Vissi d’arte“ anhebt, ist es kein Ausstellungsstück, sondern ein ernstes Gebet, getragen von makellosem Legato und einer Ruhe, die gerade dadurch erschüttert. Man hört in der Modulation den Riss entstehen – und man glaubt im Moment der Tat, dass hier eine Frau aus gebrochener Würde zu Kraft findet. Diese Wandlung ist nicht ein Effekt der Regie. Sie ist eine Folge des Singens.

Jonathan Tetelman schließlich ist der Punkt, an dem Gefühl in Gegenwart umschlägt. Zunächst scheint sein „Che fai?“ fast zu schmal, sein „Dammi i colori“ wie mit feinem Pinsel gezogen. Ein Illusionsmoment. Sobald er die Phrase wirklich öffnet, steht der Saal in einer anderen Temperatur. Es ist nicht nur der Glanz in der Höhe, nicht nur die geschmeidige Mittellage, nicht nur die Sicherheit des Atems. Es ist jene seltene Fähigkeit, Energie und Zartheit in derselben Sekunde zu besitzen. Da steht kein Tenor, der Töne liefert. Da steht ein Mensch, der das Singen nutzt, um Bedeutung zu zünden. Ich ertappte mich, wie sich mir Tränen in die Augen drückten, ohne dass etwas Spektakuläres geschah – es war das Gegenteil: die Selbstverständlichkeit, mit der eine Linie den Sinn trägt. Wer seine Studioaufnahme kennt, staunt. Hier klingt dieselbe Stimme wie neu aufgestellt: mehr feine Abstufung, weniger glatte Fläche, vor allem diese zwingende Unmittelbarkeit, die im Studio nie vollständig erfasst werden kann.

Sein „La vita mi costasse, vi salverò!“ im ersten Akt ist kein heroischer Pinselstrich, sondern ein Schwur, dem man glauben möchte. Davor und danach reagiert die Partitur wie ein Seismograph. Das Orchester antwortet mit atmenden Bögen, die Holzbläser legen Wärme unter den Ton, die Streicher ziehen einen tragenden Horizont. Und dann die berühmte Stelle, die man an diesem Abend als Randbemerkung akzeptiert und doch nicht verschweigt: der kurze hämische Aufschlag von Lachen vor „Vittoria! Vittoria!“. Er dient hier als Zündfunke, nicht als Vorführung. Die gedehnten Rufe – gemessen um ca. fünfzehn Sekunden, gefühlt eine einzige Konsequenz der Dramaturgie – tragen die Energie, die Tetelman zuvor aufgebaut hat, einfach weiter. Es geht nicht um Zeit, es geht um Wahrhaftigkeit. Man sieht Gesichter im Parkett, die in diesem Moment den Begriff Triumph neu fassen.

Der dritte Akt gehört in Wien zunächst dem Graben. Morandi lässt die Streicher vor dem Klarinettensolo so fein und doch so kernig spielen, dass wirklich Kammermusik entsteht – nicht als Reduktion, sondern als Verdichtung. Das Cello blüht hervor, warm, die anderen Streicher atmen wie ein Herz unter der Szene. Wenn die Klarinette ansetzt, ist es nicht bloß ein Übergang, es ist eine Eröffnung: Sehnsucht als Klangidee, die die Harmonie vorbereitet. Puccini schreibt hier keine Effekte, er schreibt Atem. So auch die Arie. Tetelman beginnt „E lucevan le stelle“ wie ein Geheimnis, ein filigranes Piano, das mehr Präsenz als Lautstärke hat. Dann wächst die Linie, und sie wächst nicht in Dezibel, sondern in Sinn. Man hört die kleinen harmonischen Kippbewegungen, die Puccini so meisterlich setzt; man spürt das schmale Spiel zwischen Rubato und Puls, in dem Morandi und Tetelman einander nicht tragen, sondern sich mitnehmen. Die Kulmination kommt wie eine Erkenntnis. Kein Forcieren, kein Auftrumpfen, sondern das unausweichliche Aufgehen einer Form. Als der letzte Ton verklingt, bleibt für einen winzigen , kaum greifbaren Bruchteil einer Sekunde eine Stille, die nicht leer ist. Dann bricht sie in Zustimmung auf. Es ist einer jener seltenen Momente, in denen man eine berühmte Arie hört, als sei sie gerade erst erfunden.

Foto: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
  • Foto: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
  • hochgeladen von Marko Cirkovic

Gleich zu Beginn, wenn die Luft der Kirche noch nach Stein, Flucht und aufgescheuchter Stille riecht, setzte Jusung Gabriel Park als Angelotti ein deutliches Zeichen. Sein Debüt trug jene ruhige Entschlossenheit, die diese kurze, aber charakterprägende Partie verlangt: die Tiefe getragen, die Mittellage kernig, die Sprache sauber gefasst, der Blick für den Moment geschärft. Er zeichnete keinen pauschalen Flüchtling, sondern einen Mann mit Geschichte; ohne Drängen auf Effekte ließ er Kontur entstehen, gab der Szene Schwere und Richtung und verschwand wieder, wie er gekommen war, jedoch mit der Art von Nachhall, die ein Haus sich merkt. Aus anderer Richtung, doch nicht minder unüberhörbar, meldete sich Devin Eatmon, Mitglied des Opernstudios, als Spoletta. Er führte die Figur nicht als Randnotiz, sondern als präzise gesetzten Motor der Handlung: Präsenz, die sofort im Raum stand, eine schlanke, durchschlagende Projektion, die sich mühelos auf den Text legte, und eine Rhythmik, die Scarpias Apparat mit alertem Gift versorgte. In diesen wenigen Auftritten lag mehr als ordentliche Pflichterfüllung; es war eine Visitenkarte mit klarer Handschrift, die – bei fortgesetzter Sorgfalt – nach Aufgaben ruft, die größer sind als die Schatten, in denen Spoletta gewöhnlich operiert.

An dieser Stelle verdient das Orchester einen eigenen Satz. Was im Finale geschieht, ist keine bloße Lautstärke. Es ist eine eskalierende Expressivität, die von der Partitur gedeckt und von Morandi exakt dosiert ist. Die Blechbläser setzen Glanz, ohne die Textur zu verhärten, die Schlagwerkakzente sind Impulse, keine Keulen, die Holzbläser bleiben als Farben hörbar, wenn der Gesamtklang aufdreht. Gänsehaut wird nicht geliefert, sie stellt sich ein. Sie bleibt.

Angesichts solch überwältigender musikalischer und darstellerischer Leistungen trat die szenische Dimension des Abends fast in den Hintergrund – und ausgerechnet das Schicksal wollte es, dass sie im zweiten Akt buchstäblich zur Nebensache wurde. Nach einem stimmungsvollen ersten Akt vor prachtvoller Kulisse trat noch vor Beginn des zweiten Aktes der Staatsoperndirektor persönlich vor den Vorhang und verkündete mit bedauerndem Lächeln eine „gute Nachricht“: Aufgrund eines technischen Defekts sei die Bühnenmaschinerie ausgefallen, und man werde den gesamten zweiten Akt konzertant, also ohne Bühnenbild, vor dem Vorhang spielen. Ein erstauntes Raunen ging durch den Zuschauerraum – und ja, vereinzeltes Murren war zu hören. Ich jedoch konnte mir ein leises Lächeln nicht verkneifen. „Jackpot!“ dachte ich mir insgeheim. Denn was andernorts als Zumutung gelten mag, erwies sich in Wien als Segen: Die Konzentration bündelte sich nun vollends auf die Musik, auf Gesang und Orchester, auf das pure dramatische Geschehen ohne optische Ablenkung. Und tatsächlich entfaltete sich in diesem konzertanten zweiten Akt eine ungeheure Intensität. Ich schloss mehrmals die Augen und ließ mir die Klangwogen dieser Aufführung durch Mark und Bein gehen. Es war erstaunlich, wie wenig man das fehlende Bühnenbild vermisste – so suggestiv malten Stimme und Orchester gemeinsam die grausame Folterszene und das Psychoduell zwischen Tosca und Scarpia, dass vor dem inneren Auge ohnehin ein Film ablief. In diesen Momenten spürte man die Größe von Puccinis Kunst: Sie bedarf keiner äußeren Effekte, um ihre volle Wirkung zu entfalten.

Zwischen zweitem und drittem Akt geschah das, was Häuser wie das der Wiener Staatsoper in ihrer sozialen Wahrheit zeigt. Ein Paar aus Argentinien, nach eigener Aussage extra für diese Tosca-Serie angereist, zeigte sich empört – ja regelrecht entsetzt – über die konzertante Darbietung des zweiten Aktes. „Horrible… exhausting… such a terrible performance!“ stießen sie in perfekten Englisch hervor und machten ihrem Unmut lautstark Luft. Ich glaubte zunächst, meinen Ohren nicht zu trauen. Hatte ich dieselbe Aufführung erlebt wie sie? Für mich grenzte das eben Erlebte an opernhistorischen Ausnahmezustand, während diese Herrschaften es offenbar als Zumutung empfanden. Um meinen eigenen Eindruck zu vergewissern, sprach ich spontan mit einigen anderen Besuchern in der Nähe. Ihre Reaktionen beruhigten mich: Überall leuchtende Augen, begeistertes Gestikulieren, schwärmerische Worte – das Wiener Publikum schien überwiegend genauso hingerissen wie ich. Es tat gut zu sehen, dass die Qualität dieser musikalischen Glanzleistung sehr wohl erkannt wurde. Ein unschönes Nachspiel hatte diese Episode jedoch noch: Als der Direktor vor dem dritten Akt erneut auf die Bühne trat, um zu verkünden, dass der Vorhang nun wieder aufgehen könne und die Engelsburg-Kulisse für den Schlussakt doch noch zur Verfügung stehe, rief derselbe Herr aus dem Parkett unvermittelt dazwischen: „SPEAK ENGLISH!!“ Diese zwei Worte hallten wie ein grober Misston durch den festlichen Saal. Ein Raunen der Verwunderung ging durch die Reihen – man spürte deutlich, dass solch vulgäres Gebaren in diesem Hause fehl am Platz war. Glücklicherweise tat es der Stimmung keinen Abbruch: Ein knappes Augenrollen hier und da, und schon zog uns der nun wieder komplett ausgestattete dritte Akt zurück in den Bann der Oper.

Wenn ich den Abend rückwärts in drei Sätzen binden müsste, sähe es so aus: Morandi dirigierte als Möglichmacher und ließ die Partitur atmen. Tézier war bereits im ersten Akt intensiv – nur die erste höfliche Schicht war rasch abgestreift – und gestaltete einen Scarpia von furchtbarer Eleganz. Stikhina ließ Toscas Heiligkeit ohne Pathos hörbar werden und fand in der Verletzung ihre Kraft. Und Tetelman sang sich an die Weltspitze. Nicht durch Lautstärke, sondern durch Wahrhaftigkeit. Nicht durch Rekord, sondern durch Konsequenz. Das ist kein Schlagwort. Es ist die nüchterne Bilanz eines Abends, der Maßstäbe gesetzt hat.

Am Rand ein Blick nach vorn, der sich aus diesem Jetzt speist. Am 1. November in Rom wird Daniel Oren eine einmalige Tosca leiten, mit Eleonora Buratto, Jonathan Tetelman und Luca Salsi. Ich werde hinsehen und hinhören. Nach Wien aber bleibt die Gewissheit, dass Oper, wenn sie so geschieht, die Zeit nicht vertreibt, sondern stiftet. Man geht hinaus in die Nacht und trägt Klang mit sich – Streicher vor einer Klarinette, ein Cello, das spricht, eine Stimme, die nicht laut, sondern wahr singt. Und die Ahnung, dass man Zeuge eines Abends war, von dem die Erinnerung länger hält als der Applaus.

Foto: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
Foto: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
Foto: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
Autor:

Marko Cirkovic aus Durlach

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

Folgen Sie diesem Profil als Erste/r

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

Video einbetten

Es können nur einzelne Videos der jeweiligen Plattformen eingebunden werden, nicht jedoch Playlists, Streams oder Übersichtsseiten.

Abbrechen

Karte einbetten

Abbrechen

Social-Media Link einfügen

Es können nur einzelne Beiträge der jeweiligen Plattformen eingebunden werden, nicht jedoch Übersichtsseiten.

Abbrechen

Code einbetten

Funktionalität des eingebetteten Codes ohne Gewähr. Bitte Einbettungen für Video, Social, Link und Maps mit dem vom System vorgesehenen Einbettungsfuntkionen vornehmen.
Abbrechen

Beitrag oder Bildergalerie einbetten

Abbrechen

Schnappschuss einbetten

Abbrechen

Veranstaltung oder Bildergalerie einbetten

Abbrechen

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.

Powered by PEIQ