Brücken statt Brandmauern
Warum wir wieder mehr miteinander reden müssen

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Die Popsängerin Nina Chuba hat jüngst einen drastischen Schritt getan: Sie brach den Kontakt zu einem Teil ihrer Familie ab – aus politischen Gründen. „Ich habe mit einem Teil meiner ostdeutschen Familie gebrochen, weil sie politische Haltungen vertreten, für die ich nicht stehe. Ich kann da auch keine falsche Toleranz oder Verständnis zeigen. Ich bin absolut gegen die AfD“, erklärte die 26-Jährige . Mit diesen Worten zog sie eine Brandmauer quer durch die eigene Verwandtschaft. Ihr Fall steht exemplarisch für eine wachsende gesellschaftliche Tendenz, politische Differenzen radikal zu personalisieren. Was früher vielleicht am Familientisch hitzig debattiert wurde, führt heute zum Abbruch jahrzehntealter Bindungen.
Ein zweites aktuelles Beispiel belBrisanz dieser Entwicklung: Leonie Plaar, Autorin des Bestsellers „Meine Familie, die AfD und ich“, hat öffentlich mit ihren Eltern gebrochen – ebenfalls aufgrund deren Begeisterung für die AfD . Plaar, Jahrgang 1992 und selbst lesbisch, fühlte sich durch die politische Haltung ihrer Familie derart bedroht, dass sie den Kontakt trotz familiärer Liebe kappte. Ihre Sexualität sei dabei nicht der eigentliche Grund der Entfremdung gewesen; explizite Anfeindungen habe es nicht gegeben. Doch die Unterstützung einer Partei, die sie als Gefahr für Menschen wie sich selbst ansieht, war die sprichwörtliche Sollbruchstelle . Mit einem gewissen trotzigen Stolz berichtet sie, wie für sie schließlich das Politische schwerer wog als Blut und Verwandtschaft.
Diese Fälle stehen nicht allein. In immer mehr Familien und Freundeskreisen zieht die politische Polarisierung tiefe Gräben. Was als Brandmauer in der großen Politik begann – der klare Konsens aller anderen Parteien, mit der AfD keinesfalls zu kooperieren – findet nun seinen Weg in den Alltag. Die AfD und ihre Anhänger werden nicht nur parlamentarisch isoliert, sondern auch im Privaten ausgesperrt. Ausgrenzung ersetzt Austausch. Doch genau hier liegt das Problem: Wir dürfen nicht aufhören, mit diesen Menschen zu sprechen – nur wegen ihrer politischen Meinung. So verständlich der Impuls auch ist, eine als unmenschlich und gefährlich empfundene Haltung strikt abzulehnen: Wer den Dialog abbricht, verbarrikadiert sich hinter einer Mauer und lässt den anderen jenseits davon zurück. Damit entsteht auf der anderen Seite kein geläutertes Schweigen, sondern ein Echoraum, in dem die Ausgeschlossenen unter sich bleiben und ihre Ansichten ungestört immer weiter radikalisieren.
Die Wirkung dieser sozialen Brandmauer gleicht der Dynamik einer Sekte. Wer sich von der Gesellschaft verstoßen fühlt, rückt umso enger in seinem Kreis zusammen. In solchen abgeschotteten Blasen fehlt jede Reibung an Widerspruch von außen; stattdessen bestätigen sich die Gleichgesinnten ständig gegenseitig. Jede Kritik von draußen dient nur als weiterer Beleg dafür, dass „die Anderen“ einen nicht verstehen oder einen zum Schweigen bringen wollen. Die Fronten verhärten sich unweigerlich . Anstatt Zweifel zu säen, schweißt die Ächtung die Ausgegrenzten immer fester zusammen – gegen den Rest der Gesellschaft. Man befeuert also genau das, was man zu bekämpfen meint. Der Funke der Zwietracht wird zur Flamme, die neue Anhänger anzieht und weiter entfacht. Tatsächlich verzeichnet die AfD trotz (oder gerade wegen?) ihrer Isolation stetigen Zulauf: In Umfragen stieg sie bundesweit auf etwa 22 % – der höchste Wert seit langem . Ein Verbot oder die strikte Ächtung würden diese rund 10 Millionen Wählerinnen und Wähler aber keineswegs einfach wegzaubern . Sie blieben, mit ihren Ressentiments und Sorgen, nur noch tiefer verbittert zurück.
Hier stellt sich die unbequeme Frage: Was haben wir als Gesellschaft davon, wenn wir einen Teil unserer Mitbürger als hoffnungslosen Fall abstempeln und jeden Dialog verweigern? Politische Einstellungen können sich ändern – aber nur, wenn man im Gespräch bleibt . Kapselt man sich hingegen voneinander ab, hat niemand mehr Einfluss auf den anderen; man überlässt die Menschen vollständig dem Einfluss ihrer eigenen Blase. Gerade im persönlichen Umfeld gäbe es die Chance, durch beharrliches Diskutieren, durch Vorleben anderer Werte, etwas zu bewegen. Doch wer den Kontakt abbricht, kappt auch diese letzte Chance auf Einfluss. Im Gegenteil: Die Gräben vertiefen sich, und jede Seite versteift sich umso mehr auf ihre Position . Dann bleibt nur noch ein erstarrter Kampf gegen die Personen statt gegen ihre Irrtümer. Dabei sollte sich unser Kampf stets gegen die falschen Ideen richten, nicht gegen die Menschen, die sie vorübergehend vertreten . Denn Menschen können lernen – aber nur, wenn wir bereit sind, ihnen etwas beizubringen, statt sie als Feinde aufzugeben.
Gewiss, das ist leichter gesagt als getan. Die Anhänger der AfD vertreten oft Positionen, die uns als zutiefst abstoßend, ja gefährlich erscheinen. Rassistische Parolen, Geschichtsrevisionismus, Verächtlichmachung von Minderheiten – all das ist für aufgeklärte Demokraten nur schwer zu ertragen. Nina Chuba brachte genau dieses Dilemma auf den Punkt, als sie sagte, sie könne „keine falsche Toleranz“ zeigen . Niemand verlangt von uns, solchem Gedankengut Applaus zu spenden oder es unwidersprochen im Raum stehen zu lassen. Toleranz bedeutet nicht, dass wir Unmenschlichkeit akzeptieren oder relativieren. Doch wahre Toleranz zeigt sich gerade darin, die Menschen hinter den Meinungen nicht völlig abzuschreiben. Es ist eine Gratwanderung: Wir müssen klar zwischen der Person und ihrer momentanen Überzeugung unterscheiden. Keine falsche Toleranz heißt nicht, den Menschen als Ganzes zu verstoßen, sondern im Gegenteil: ihn ernst zu nehmen, ihn an unseren Werten zu messen und ihn nach Kräften vom Besseren zu überzeugen. Wer tolerant ist, darf Intoleranz entschieden entgegentreten – aber er darf den Träger der intoleranten Ansicht nicht als Gesprächspartner verlieren wollen.
Ein Blick auf die Ursachen des AfD-Zulaufs zeigt, warum Abbrechen und Ausgrenzen in die Sackgasse führen. Viele derer, die sich der AfD zuwenden, tun dies aus Gefühlen der Ohnmacht, der Entfremdung und des Protests. Gerade in Ostdeutschland haben manche über Jahre erfahrene Benachteiligung, fehlende Anerkennung und einen Verlust von Kontrolle empfunden . Die AfD bietet diesen Frustrierten einfache Antworten und Sündenböcke an: Schuld sind die Anderen – Migranten, „das System“, die etablierten Politiker . Indem sie gegen Minderheiten wettert und das Wir gegen die beschwört, vermittelt sie ihren Anhängern ein trügerisches Gefühl von Aufwertung und Selbstermächtigung . Kurz: Wer sich übergangen und übersehen fühlt, findet dort endlich Gehör – zumindest für seinen Unmut. Wenn wir als Gegenreaktion nun diese Menschen tatsächlich ignorieren, meiden, ihre Sorgen pauschal als irrelevantes „Geschwurbel“ abtun, dann bestätigen wir in ihren Augen genau das Narrativ der AfD: dass die da oben oder die feine Gesellschaft sich nicht für die einfachen Leute interessiert. Die entstehende Wut und Kränkung treiben sie nur noch fester in die Arme der Populisten. Wer dagegen Brücken baut, wer versucht zuzuhören und die Beweggründe zu verstehen, der entzieht der einfachen Schwarz-Weiß-Propaganda den Nährboden. Verständnis heißt dabei ausdrücklich nicht Einverständnis – aber es bedeutet, dem anderen die Hand zu reichen, bevor er vollends ins Abseits marschiert.
Brücken bauen ist anstrengend. Es heißt, Gespräche zu führen, die unangenehm sind und oft im Streit enden. Es heißt, Parolen auszuhalten und dennoch ruhig zu bleiben, auch wenn innerlich Empörung tobt. Es heißt aber auch, im richtigen Moment klare Kante zu zeigen: deutlich zu widersprechen, wenn rote Linien – etwa die Menschenwürde anderer – überschritten werden. Diese Balance auszuhalten erfordert Mut und Geduld. Doch es ist der einzig gangbare Weg, will man die Spaltung der Gesellschaft nicht immer weiter vertiefen. Es gab in der Geschichte dunkelste Kapitel, in denen der Dialog versagte und die Lager einander nur noch mit Hass begegneten – am Ende standen Gewalt und Zerstörung. Soweit darf es nie wieder kommen. Demokratie lebt vom Ringen um die bessere Idee, vom Streitgespräch, vom Kompromiss. Wenn wir diesen Prozess abbrechen und stattdessen Mauern hochziehen, verraten wir einen Kern unserer offenen Gesellschaft.
Am Ende müssen wir eine unbequeme Wahrheit verkraften: Menschsein umfasst viele Facetten – auch solche, die wir an unseren Mitmenschen nur schwer ertragen können. Jeder von uns trägt Licht und Schatten in sich. Der AfD-Anhänger von heute kann durch gute Argumente und echtes Mitgefühl morgen schon zum Zweifelnden werden – doch nur, wenn wir ihn bis dahin nicht aufgegeben haben. Toleranz ist keine feige Duldung des Unrechts, sondern eine aktive, manchmal schmerzhaft anstrengende Auseinandersetzung mit dem Andersdenkenden. Sie bedeutet, dass gesagt werden darf, was gesagt werden muss – und dass wir es aushalten, auch das vermeintlich Unsägliche zu hören, um darauf antworten zu können. Denn nur was gesagt werden darf, kann im offenen Diskurs widerlegt und überwunden werden. Eine Gesellschaft, die sich diesem Streit ums Sagbare stellt, mag temporär Kränkungen hinnehmen müssen. Doch sie beweist damit Stärke: die Stärke, die Menschlichkeit auch gegenüber denen aufrechtzuerhalten, die sich gerade irren. Wer Brücken baut, anstatt Brandmauern zu errichten, gibt damit niemandem einen Freifahrtschein für menschenfeindliches Gedankengut – aber er bewahrt sich die Möglichkeit, das Ruder doch noch herumzureißen. Die vielleicht wichtigste Lehre lautet daher: Hören wir niemals auf zu reden. Nur so können wir verhindern, dass aus Mitbürgern endgültig Fremde oder Feinde werden. Nur so behalten wir am Ende unser eigenes menschliches Antlitz – und reichen denen, die es verloren zu haben scheinen, die Hand, um sie ins gemeinsame Licht zurückzuziehen.
Autor:Marko Cirkovic aus Durlach |
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