Hinrichtung eines Meisterwerks
Konwitschnys „Frau ohne Schatten“ in Bonn
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Mit der Bonner Aufführung von Richard Strauss’ Oper Die Frau ohne Schatten (Libretto: Hugo von Hofmannsthal) hat man – unter dem fadenscheinigen Vorwand des angeblich „frauenfeindlichen“ Gehalts – eine künstlerische Hinrichtung vollzogen. Das Werk wurde verstümmelt, seiner Seele beraubt und gleichsam exekutiert. Regisseur Peter Konwitschny und seine Dramaturgie meinten, dem Publikum eine radikal gekürzte Fassung aufzwingen zu müssen, weil die Oper im Original ein „unerträgliches Frauenbild“ enthalte . Was für eine Anmaßung! Die Folge war eine in jeder Hinsicht respektlose Behandlung des Werks – ein zerstückeltes und gekürztes Werk mit einer krampfhaft aufgezwungenen Handlung, die ihm jeglichen Reiz raubt . Hier wurde aus purer Selbstgerechtigkeit ein musikalisches und dramaturgisches Meisterstück massakriert.
Nein, ich habe mir diese Bonner Frau ohne Schatten nicht live angesehen. Genauso wenig, wie man sich im Internet Videos von Hinrichtungen, Zerfleischungen oder schwerer Körperverletzung anschaut, um deren Verwerflichkeit zu erkennen. Man muss diese qualvolle Entstellung nicht persönlich erleiden, um zu wissen, dass das, was dort passiert ist, falsch war – ja ungeheuerlich. Es reicht, die Fakten und Reaktionen zu kennen. Fast 100 Seiten Partitur wurden herausgeschnitten; musikalische Nummern hemmungslos umgestellt, sodass die Oper nun mit dem Ende des zweiten Aktes abbricht . Von der ursprünglichen vierstündigen musikalischen Architektur blieben schlanke 2 Stunden 40 Minuten übrig . Der bonbonbunte Märchen-Schluss mit Verklärung und Versöhnung? Abgeschafft. Stattdessen herrschen Zynismus und Gewalt: Konwitschny inszeniert ein Mafia-Drama mit finaler Schießerei im Edelrestaurant, einem blutigen Showdown anstelle der utopischen Apotheose. Damit nicht genug: Er hat es gewagt, selbst Strauss’ erhabene Partitur zu zersäbeln – eines der letzten Tabus im Musiktheater . Solch ein Akt der Verstümmelung kommt einer künstlerischen Körperverletzung gleich. Und ja, ich erlaube mir dieses Urteil, ohne bei der Premiere anwesend gewesen zu sein – denn man muss nicht erst die Tat vollzogen sehen, um den Mord am Werk zu erkennen.
Konwitschnys Verteidigungslinie – vorgetragen von Dramaturgin Bettina Bartz im Programmheft – lautet sinngemäß: Hofmannsthals 1919 uraufgeführtes Libretto transportiere ein für heutige Zuschauer unzumutbares Frauenbild, weshalb man es „nicht unbearbeitet aufführen“ könne . In Bonn glaubte man offenbar, besser zu wissen als Generationen von Interpreten zuvor, wie mit Strauss’ Oper umzugehen sei.
In diesem märchenhaften Plot spiegelt sich eine zutiefst humanistische Botschaft. Hofmannsthal selbst betonte, dass im Kern „alles auf die Menschwerdung hinausläuft“ – gemeint ist die innere Läuterung der Kaiserin. Diese wandelt sich im Lauf der Handlung von einem naiven, fast kindlichen Geschöpf der Geisterwelt zu einer Frau, die bewusst Moral und Mitmenschlichkeit wählt, selbst um den Preis persönlichen Verlusts. Das Original feiert also die Fähigkeit des Menschen – gerade der Frau – zu Empathie, Opfermut und autonomer Entscheidung. Wo ist hier pauschaler Frauenhass? Im Gegenteil: Die weibliche Hauptfigur erweist sich als moralische Heldin.
Im Zentrum dieser Oper steht eine Frau, der zunächst etwas fehlt: die Kaiserin ohne Schatten, durchsichtig, „gläsern“, noch nicht wirklich Mensch. Der Schatten, dieser scheinbar altmodische Metaphernbrocken, bezeichnet bei Hofmannsthal alles, was echte Existenz ausmacht: Sterblichkeit, Schuld, Fruchtbarkeit, die Fähigkeit, Spuren in der Welt zu hinterlassen. Die Kaiserin hat all das nicht – und genau deshalb muss sie es sich erarbeiten. Der Weg, den Hofmannsthal ihr zumutet, ist kein bequemer: Sie soll einen Schatten erwerben, nicht geschenkt bekommen. Sie wird in Versuchungen geführt, in moralische Zonen, in denen es wirklich weh tut. Sie könnte den Schatten der anderen Frau nehmen, sie könnte das Glück der Färberin und Baraks als bloßen Rohstoff für ihr eigenes Familienglück verbrauchen. Dass sie am Ende genau dies verweigert und mit einem furchtbar klaren „Ich will nicht“ das eigene Leben aufs Spiel setzt, um kein fremdes zu zerstören, ist alles Mögliche – aber sicher nicht frauenfeindlich.
Denn was ist diese Kaiserin anderes als eine Frau, die aus der Abhängigkeit von Vater und Ehemann herauswächst, indem sie eine eigene, autonome Moral formuliert? Sie gehorcht nicht mehr Keikobads Gesetz, das kühl fordert: Schatten um jeden Preis oder der Kaiser wird Stein. Sie gehorcht ihrem Gewissen. Sie nimmt den Blick vom Mann – vom bedrohten Kaiser – und sieht plötzlich die andere Frau, die Färberin, nicht als Material, sondern als Gegenüber. Ihre Menschwerdung vollzieht sich in dem Moment, in dem sie die instrumentalisierende Logik des Systems verweigert: „Ich will nicht den Schatten, auf ihm ist Blut.“ Man kann, wenn man es unbedingt will, diese Szene als konservative Apotheose der Mutterschaft lesen. Man kann sie aber ebenso als radikal feministische Selbstermächtigung lesen: Eine Frau, die sich den Preis nicht diktieren lässt, die ihr Recht auf moralische Selbstbestimmung höher bewertet als das eigene Glück – und die, nebenbei bemerkt, ihrem Gatten buchstäblich das Leben rettet. Wer das herausstreicht, weil es vermeintlich „problematisch“ ist, verwechselt Ambivalenz mit Gefahr und entmündigt genau jene Figur, der das Libretto die größte moralische Kraft zuspricht.
Parallel dazu die Färberin, jene sperrige, verletzte, trotzig-unzufriedene Frau im Armenhaus: Sie ist nicht die sanfte Heilige, die brav in die Rolle der Mutter hineinstrahlt, sondern eine von Bitterkeit durchzogene Gestalt, die zunächst keine Kinder will, die dem engen Leben mit Barak misstraut, die von einem anderen Selbst träumt – schön, begehrt, frei. Man könnte sagen: eine Frau, die die Zumutung „du musst Mutter werden“ nicht einfach schluckt. Dass Hofmannsthal ihr zunächst das Nein gönnt – nein zur Armut, nein zur Rolle, nein zum Kinderkriegen –, ist für die Entstehungszeit bereits sprengstoffartig. Problematisch ist nicht ihr Nein, problematisch sind die Kräfte, die dieses Nein missbrauchen: die Amme, die ihr einredet, der eigene Schatten sei wertlos, ein „schwarzes Nichts“, das man getrost verkaufen könne; der gesellschaftliche Kontext, der ihr den eigenen Wert so lange aberkennt, bis sie ihn selbst nicht mehr sieht. Die Tragik der Färberin besteht darin, dass sie ihre Autonomie an die falsche Instanz delegiert.
Gerade darin liegt die aktuelle, ja geradezu schneidende Modernität dieser Figur. Sie ist nicht eine „böse Frauenfigur“, die fürs Patriarchat bestraft wird, weil sie keine Kinder will, sondern ein erschreckend realistisches Porträt einer Frau, die im Strudel von äußeren Erwartungen, innerem Trotz und verführerischer Ideologie die Orientierung verliert. Ihre Rückkehr zu Barak, ihr spätes, hart errungenes „Ja“ zu Liebe und Mutterschaft ist nicht die Rücknahme einer Emanzipation, sondern das Ergebnis eines schmerzhaften Selbstgesprächs: Sie entdeckt, dass die vermeintliche Freiheit, die ihr verkauft wurde, in Wahrheit ein leeres Versprechen war. Dass sie am Ende Kinder will, ist nicht der Sieg eines bürgerlichen Familienideals, sondern ihr eigener Entschluss – und nur deshalb trägt dieser Entschluss Würde. Wer diesen Weg begradigt, wer die Wunden aus dem Text herausschneidet, nimmt ihr das Entscheidende: dass sie sich irren darf, fallen darf, sich schuldig machen darf – und eben deshalb als Subjekt ernst zu nehmen ist.
Damit wird klar: Die Frau ohne Schatten ist kein Kitschmärchen über brave Gattinnen, die am Ende alle schwanger im Licht stehen, sondern ein metaphysisches Drama über Frauen, die in einer von Männern und Göttern entworfenen Ordnung ihre eigene Stimme suchen – und finden. Die Amme steht als Schattenfigur dazu: eine „dunkle Mutter“, die nicht nährt, sondern manipuliert, die weibliche Macht als reine Technik, als kaltes Kalkül begreift. Sie verkauft Schatten und Seelen, redet Frauen ein, ihre Körper seien bloß Ware. Wenn jemand in diesem Stück in der Nähe des Zynismus steht, den man heute einer kapitalistisch gewendeten „Empowerment“-Industrie vorwerfen könnte, dann ist es diese Amme. Dass am Ende ausgerechnet sie keine Läuterung erfährt, ins Nichts verstoßen wird, ist eine sehr deutliche Setzung. Das Libretto weiß genau, worin es die eigentliche Unmenschlichkeit erkennt: nicht in der Ambivalenz der Frauen, sondern in der Instanz, die Frauen auf Funktionen reduziert.
Vor diesem Hintergrund ist es – gelinde gesagt – eine Anmaßung, das Werk unter dem Etikett „frauenfeindlich“ so zu verstümmeln, dass von dieser komplizierten inneren Geometrie kaum mehr etwas übrig bleibt. Dramaturgische Freiheit, Regiefreiheit, Lesefreiheit – all das ist kostbar und nötig. Kein ernstzunehmender Mensch verlangt, man müsse Strauss und Hofmannsthal „werksgetreu“ konservieren wie ein Präparat in Formaldehyd. Aber Freiheit heißt nicht, dass man die Struktur eines Werkes zerstören darf, um es vor dem eigenen Unbehagen zu retten. Freiheit heißt, das Unbehagen sichtbar zu machen, es auszuhalten, zu kommentieren, zu konfrontieren – nicht, es mit dem Rotstift unsichtbar zu machen. Wer ausgerechnet jenen Szenen, in denen die Figuren an die Grenzen ihrer Zeit stoßen, die Luft abschnürt, betreibt keine Kritik, sondern prophylaktische Entschärfung: Kunst als kindersichere Steckdose.
Damit ist die Bonner Operation – soweit man ihren offen kommunizierten Ansatz versteht – nicht mehr eine Interpretation, sondern eine Art ideologische Hygiene. Was als „Problem“ identifiziert wird, wird entfernt, statt gestellt. Die Kaiserin darf dann vermutlich nur noch gute Entscheidungen treffen, die Färberin nicht mehr wirklich versagen, die Schatten-Symbolik nicht mehr weh tun. Das Ergebnis ist kein feministisch geläutertes Stück, sondern eine moralisch kastrierte Version, in der Frauen eben nicht mehr als widersprüchliche, gefährliche, grandiose Wesen auftreten, sondern als glattgebügelte Trägerinnen richtiger Haltungen. Man nimmt ihnen das Recht auf Irrtum und Schuld – und damit genau jene Menschlichkeit, die das Stück in seinem Kern verhandelt.
Es ist im Übrigen eine bittere Ironie, dass man im Namen des Feminismus ausgerechnet die stärksten feministischen Momente der Oper neutralisiert. Die Kaiserin, die ihrem Vater ins Gesicht – oder ins Unsichtbare – sagt, sie akzeptiere sein Gesetz nicht um den Preis fremden Blutes; die Färberin, die zu ihrer eigenen Schuld steht und Barak nicht als Herrscher, sondern als Partner wieder annimmt; die Schlussvision zweier Frauen, die „in prüfenden Flammen gestählt“ wurden und nun aus eigener Kraft Mütter werden: Das alles sind keine Puppen im Dienst einer patriarchalen Moral, sondern Frauen, die ihre Schatten selbst gewonnen haben. Wer das alles zuschneidet, weil bestimmte Sätze im Libretto heute „nicht mehr gehen“, verpasst den literarischen und philosophischen Punkt: dass es gerade in der Reibung zwischen damaliger Sprache und heutiger Wahrnehmung spannend wird. Eine Regie, die glaubt, uns diese Reibung ersparen zu müssen, behandelt das Publikum wie Kinder und die Figuren wie Pappkameraden.
Natürlich kann man und soll man heutige Sensibilitäten ernst nehmen. Man kann Baraks Rede über die „Pflicht“ der Frau, Kinder zu gebären, so inszenieren, dass sie im Halse stecken bleibt. Man kann die Gewaltfantasie des Schwertes, mit dem er die vermeintlich untreue Frau töten will, als das zeigen, was sie ist: eine furchtbare, reale Gefahr, die viele Frauen bis heute kennen. Man kann den Wunsch nach Kinderlosigkeit nicht als Laune, sondern als existenzielle Option ins Bild setzen, den Schmerz, den Druck, die Angst zeigen. Das alles ist möglich – ja, es ist nötig. Aber dazu muss man den Text ernst nehmen, nicht ihn erdrosseln. Man muss sich am Original reiben, statt es vorab zu zerkleinern wie schwer verdauliche Kost. Regiefreiheit heißt nicht, den Patienten zu töten, um ihm die Krankheit zu ersparen.
Die Bonner Verstümmelung – nichts anderes ist eine radikal gekürzte, ideologisch gesäuberte Frau ohne Schatten – ist deshalb weniger ein Skandal, weil hier ein „Klassiker entstellt“ wurde, als weil sie ein Symptom ist. Ein Symptom dafür, wie wenig Vertrauen man der Kunst und dem Publikum zutraut. Anstatt die Zumutungen eines frühen 20. Jahrhunderts auf die Bühne zu stellen und sie mit heutigem Wissen gnadenlos zu befragen, entscheidet man sich für die sicherste aller Varianten: Man nimmt dem Werk die Zähne, drückt ihm einen politisch wohlfeilen Maulkorb ins Gesicht und nennt das dann Aktualisierung. Zurück bleibt eine Hülle, ein Schatten ohne Körper – eine absurde Umkehrung des ursprünglichen Problems.
Es mag pathetisch klingen, aber bei einem Werk wie diesem geht es tatsächlich um mehr als um Geschmack. Die Frau ohne Schatten ist eine große Humanismusmaschine: Sie zeigt, wie Menschen – und insbesondere Frauen – an den Forderungen ihrer Zeit wachsen oder verzweifeln, wie sie zwischen Eigeninteresse und Verantwortung wählen, wie sie an der Grenze zwischen Geist und Körper, Fruchtbarkeit und Freiheit, Liebe und Recht verzweifelt nach einem eigenen Ton suchen. Eine Inszenierung, die diesen Apparat aus Angst vor Anstößigkeit zerlegt, begeht mehr als einen ästhetischen Fehler. Sie begeht eine moralische Kurzschlussreaktion: im Namen vermeintlicher Empfindsamkeit wird die Möglichkeit wirklicher Empfindung reduziert. Das ist die eigentliche Unmenschlichkeit.
Muss Kunst zerstört werden, um frei zu sein? Nein. Aber hier wurde Freiheit benutzt, um Kunst zu zerstören. Man muss die Bonner Aufführung nicht gesehen haben, um das zu verstehen – so wenig, wie man ein Video einer realen Misshandlung ansehen muss, um gegen Gewalt zu sein. Es genügt, das Werk zu kennen, seine innere Logik, seine riskanten, schmerzhaften, großartigen Fragen. Wer diese Fragen verstummen lässt, bevor sie überhaupt gestellt wurden, stellt sich nicht gegen, sondern neben das, was das Libretto beklagt: eine Welt der Schattenlosen, in der niemand mehr Schuld auf sich laden darf, niemand mehr sich verfehlen darf, niemand mehr die Mühe des Denkens und Fühlens riskieren muss.
Hofmannsthal und Strauss haben uns eine Oper hinterlassen, in der Frauen sich an der Schwelle zur Menschlichkeit abarbeiten – und sie überschreiten. Dass man heute in Bonn glaubt, diese Frauen vor sich selbst schützen zu müssen, ist vielleicht die perfideste Form von Bevormundung. Man nimmt ihnen den Schatten und behauptet, sie damit zu befreien. In Wahrheit macht man sie wieder zu dem, was die Kaiserin zu Beginn ist: gläsern, harmlos, durchscheinend. Und genau das ist, bei allem guten Gewissen, eine Hinrichtung.
Autor:Marko Cirkovic aus Durlach |
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