Ein offener Brief eines Autisten
Liebe Amerikaner, wir müssen reden

- ChatGPT hat ein mit gezielten Prompts das Titelbild von "Mike Judge's Beavis and Butt-Head" mit den Protagonisten Beavis und Butt-Head angepasst, sodass da nun steht: "America's Donald & Robert", passenderweise mit den Portraits von Donald Trump und RFK Jr.
- Foto: ChatGPT
- hochgeladen von Stephan Alberti-Riedl
Liebe Amerikanerinnen und Amerikaner,
im Jahr 2012, als ich Englisch studierte und mich bewusst auf Amerikanisches Englisch spezialisierte (damals, als die englischsprachige Welt noch so etwas wie gesunden Menschenverstand zu besitzen schien), war ich fasziniert. Als Autist (Asperger-Syndrom, nach ICD-10) fand ich in der amerikanischen Kultur Klarheit, Rhythmus und Ausdruckskraft – von der Musik über die Medien bis hin zum Fokus auf Freiheit und Individualität.
Ich wählte Amerikanisches Englisch statt Britischem Englisch, weil es eine gewisse rohe, unverblümte Energie ausstrahlte. Jenseits des Atlantiks leidet der Buchstabe „R“ nicht an einer Identitätskrise, und die Sprache wirkte lebendig – fast schon kämpferisch. Das gefiel mir. Und man darf nicht vergessen: Die „Independent Living“-Bewegung begann in den USA und prägte entscheidend die Rechte von Menschen mit Behinderung – auch hier in Deutschland. Dafür bin ich ehrlich dankbar.
Doch wer eintaucht, sieht auch die Widersprüche. Und darum schreibe ich diesen Brief.
Die Kurzfassung:
1. Höflichkeit statt Ehrlichkeit.
Ja, Amerikaner sind höflich. Sehr sogar. Doch manchmal ersetzt diese Höflichkeit die Wahrheit – besonders, wenn diese unbequem ist. Was gesagt werden muss, wird oft nicht gesagt, um niemanden zu verletzen. Gut gemeint – aber nicht immer hilfreich.
2. Eine gewisse Angst vor Komplexität.
Es scheint eine Neigung zum Schwarz-Weiß-Denken zu geben. Grautöne verschwinden – besonders in Bereichen wie Wissenschaft, Bildung oder sozialer Gerechtigkeit. Nehmen wir die Evolutionstheorie: Anstatt sie als Möglichkeit zu begreifen, das Leben zu verstehen (und vielleicht sogar die spirituelle Verbindung zur Schöpfung zu vertiefen), wird sie mancherorts einfach abgelehnt. Dasselbe gilt für Gender-, Behinderungs- oder Psychologiethemen. Als ob differenziertes Denken zu gefährlich wäre. (Spoiler: Ist es nicht.)
3. Christsein als Ausrede statt als Lebensweg.
Versteht mich nicht falsch: Glaube kann etwas Schönes sein. Aber wenn Religion zur Ausrede wird, um Verantwortung zu vermeiden – „Sünde begehen, dann Jesus um Vergebung bitten“ – verliert sie ihre Tiefe. Vor allem, wenn dabei die Empathie verloren geht. Wenn der eigene Glaube einen davon trennt, das Leid anderer wahrzunehmen – insbesondere das von behinderten oder marginalisierten Menschen – läuft gewaltig etwas schief.
4. Aufmerksamkeit statt Verstehen.
„Awareness“ ist wichtig. Aber es ist nur der erste Schritt. Ohne echte Bildung oder Handeln wird Aufmerksamkeit schnell zur leeren Geste. Ob es um Klimawandel, Kriege oder soziale Probleme geht – ohne Substanz bleibt es beim bloßen Symbol.
Und damit zum eigentlichen Grund dieses Briefes: Autismus.
Autismus wird nicht durch Impfungen, schlechte Erziehung oder spirituelle Schieflage verursacht. Es handelt sich um eine natürliche Variante des menschlichen Gehirns – angeboren, lebenslang, weder Fluch noch Superkraft. Autismus beeinflusst soziale Interaktion, Wahrnehmung und Reizverarbeitung – bringt aber oft auch besondere Interessen, tiefen Fokus und den Wunsch nach Ehrlichkeit mit sich.
Was Autist:innen brauchen, um ein erfülltes Leben zu führen, ist Empathie, Therapie, und echte Teilhabe an der Gesellschaft – nicht Mitleid, nicht Angst, sondern Menschlichkeit.
Was Trump, RFK Jr. oder andere zu Autismus gesagt haben, sollte man so Ernst nehmen wie medizinische Ratschläge von Beavis und Butt-Head – unterhaltsam vielleicht, aber völlig unqualifiziert.
Wenn Sie amerikanisch sind und bis hierher gelesen haben: Glückwunsch. Das bedeutet, Ihr Textverständnis übertrifft das mancher Entscheidungsträger Ihres Landes. Ja, die Messlatte liegt tief – aber sie ist da.
Mit freundlichen Grüßen
Stephan Alberti-Riedl
P.S.: Ich schulde Beavis und Butt-Head eine Entschuldigung. Sie sind zwar dumm – aber immerhin nicht so dumm.
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The English version of this letter
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