Brutalismus in Wörth: Die Architektur der Babyboomer - liebenswerter Beton

An seiner nördlichen Stirnseite ist der Bau des Europa-Gymnasiums zudem mit einem wandhohen, abstrakten Betonrelief versehen, das von dem vielfach ausgezeichneten Bildhauer Karl-Heinz Deutsch entworfen wurde. | Foto: Heike Schwitalla
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Wörth am Rhein. Wenn man sich für Architektur interessiert, dann hat die Stadt Wörth am Rhein etwas ganz Besonderes zu bieten. Sie ist nämlich ein Paradebeispiel für den Brutalismus, einen architektonischen Stil, der in den 1950er bis späten 1970er Jahren populär war und sich durch seine strengen Formen und monochromes Farbbild auszeichnet. Der Name "Brutalismus" kommt vom französischen "béton brut". Der Begriff steht zu deutsch für rohen Sichtbeton - also die Verwendung von Beton in seiner nach dem Ausschalen sichtbaren Bauform - und hat im Ursprung gar nicht mit dem Wort BRUTAL zu tun. Aber genau das ist es, was diesen Stil prägt: massive, unverkleidete Betonflächen, die eine fast schon aggressive - brutale Ästhetik haben.
Brutalismus als Architekturströmung war bis in die 1980er Jahre allem im Städtebau ungemein modern. Er zeichnet sich durch rohe und nackte Betonstrukturen aus, die heute oft als massig, bedrohlich und unfreundlich wahrgenommen werden. Doch trotz ihrer schroffen und harten Ästhetik, gibt es viele Fans, die die Schönheit und den Ausdruck von Stärke in diesen Gebäuden erkennen und schätzen.

Wörth-Dorschberg - ein Herz aus Beton

Wörth am Rhein, eine Stadt in Rheinland-Pfalz, direkt an der Grenze zu Baden-Württemberg, hat einige beeindruckende Beispiele für brutalistische Architektur zu bieten. Denn Wörth ist eine klassische Stadt der "Baby Boomer": als sich im Verlauf der 1960er Jahre große Unternehmen wie Daimler-Benz und Mobil-Oil in Wörth am Rhein ansiedelten, verwandelte sich das einstige Fischerdorf in eine schnell wachsende Kleinstadt.

Das Dorschberg-Zentrum: Einkaufen und wohnen im Stil des Brutalismus | Foto: Heike Schwitalla
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Ein wahrer Bau-Boom brach aus: Auf dem Dorschberg entstand neben dem alten Ortskern ein Zentrum mit Schulen, Rathaus, Einkaufsmöglichkeiten, diversen anderen öffentlichen Bauten und einem Wohngebiet darum herum. Zu der Zeit, als auf dem Dorschberg fleißig gebaut wurde, war Sichtbeton gerade in Mode bei den Städtebauern Europas. Der Architekturstil wird Brutalismus genannt – nicht ohne Grund. Ein Gefühl der Wärme und Romantik will sich beim Betrachten nicht wirklich einstellen, dennoch können sich immer mehr Fans für diesen weitgehend ungeliebten Baustil erwärmen. Immer mehr Menschen setzen sich für die Rettung und Erhaltung der brutalistischen "Betonmonster" ein.
Als klar war, dass auf dem Dorschberg ein neuer Stadtteil entstehen sollte, setzte sich in einem städtebaulichen Wettbewerb die Konzeption von Albert Speer jr. durch, die dort ein komplett neues Stadtzentrum vorsah. Es wurde gebaut und seither bestimmt Beton das Bild von Wörth. Der Stadtteil Dorschberg ist quasi eine Musterhaussiedlung des Brutalismus: Nach und nach entstanden in den 1960er und 1970er Jahren Rathaus, Kirchen, Wohngebäude, eine Einkaufspassage, Hallenbad, Festhalle und die Schule mit dem Namen Europa-Gymnasium, die seit Herbst 2019 sogar unter Denkmalschutz steht. Als erhaltenswertes Paradebeispiel für brutalistische Architektur in Deutschland. 

Das Europa-Gymnasium - Brutalismus unter Denkmalschutz

Das bemerkenswerteste Beispiel für Brutalismus in Wörth am Rhein ist das Europagymnasium. Dieses in den 1970er Jahren erbaute Gebäude ist ein Paradebeispiel für die brutale Architektur jener Zeit. Der Entwurf ist geprägt durch die Stärke und Beständigkeit von Beton. Erbaut zwischen 1968 und 1975 vom Ludwigshafener Architekten Egon Seidel, steht das Europa-Gymnasium heute unter Denkmalschutz, was es nicht immer ganz einfach macht, den Bildungsbetrieb auf neuestem Stand zu halten. Der weitläufige, flachgedeckte Gebäudekomplex in Stahlbetonbauweise mit Klinkerverblendung besteht aus mehreren klar gegliederten, kubischen Bauteilen.
Zentrum des im ersten Bauabschnitt errichteten, viergeschossigen Hauptgebäudes bildet die imposante, von oben herab belichtete Treppenhalle, die alle Geschosse und Raumgruppen erschließt. Die Treppenhalle gehört zu den zentralen architektonischen Elementen des Gebäudes, da sie nicht nur eine funktionale Bestimmung erfüllt, sondern mit ihren in den Raum kragenden Treppenpodesten selbst auch raumbildende, skulpturale Kraft entwickelt. Der 1974 erbaute, dreigeschossige Erweiterungstrakt nordöstlich des Hauptgebäudes ist dann bereits komplett in Sichtbeton ausgeführt. Hier wird die Hinwendung zu dem in den 1960er Jahren aufkommenden Brutalismus, der das nackte, unverputzte Material als architektonisches Gestaltungsmittel in den Vordergrund stellt, besonders deutlich.

An seiner nördlichen Stirnseite ist der Bau des Europa-Gymnasiums zudem mit einem wandhohen, abstrakten Betonrelief versehen, das von dem vielfach ausgezeichneten Bildhauer Karl-Heinz Deutsch entworfen wurde. | Foto: Heike Schwitalla
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An seiner nördlichen Stirnseite ist der Bau zudem mit einem wandhohen, abstrakten Betonrelief versehen, das von dem vielfach ausgezeichneten Bildhauer Karl-Heinz Deutsch entworfen wurde. Trotz seiner scheinbaren Kargheit gibt es jedoch eine Schönheit in der Einfachheit und Geradlinigkeit des Designs. Im Europagymnasium präsentiert sich der Brutalismus in seiner ganzen Pracht. Ein Wand-Relief aus Beton, ein unverwechselbares Zeichen der brutalistischen Ästhetik, dominiert das architektonische Ensemble. Seine rohe Textur und minimalistische Ausstrahlung fasziniert nicht nur Architekturbegeisterte und Kunsthistoriker, sondern auch junge Intellektuelle, die sich mit den Wörther Bauten beschäftigen.

Alle Informationen zur Aufnahme des Europa-Gymnasiums - als Musterbau des Brutalismus - in die Denkmalliste des Landes Rheinlandpfalz

Das Beton - Rathaus in Wörth

Ein weiteres bemerkenswertes Beispiel für Brutalismus in Wörth ist das Rathaus, ein monolithischer Betonbau, der in den 1970er Jahren erbaut wurde. Mit seiner massiven, kantigen Form und den großen, rechteckigen Fenstern ist es ein typisches Beispiel für den Brutalismus.

Beim Wörther Rathaus steck die Schönheit im Detail - der eigentliche Betonbau hat nicht viele Fans | Foto: Heike Schwitalla
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Wie das Europagymnasium besteht auch das Rathaus aus grobem Beton. Die strukturierte Betonoberfläche, die von den Architekten bewusst so gewählt wurde, um das natürliche Licht auf unterschiedliche Weise zu reflektieren und somit ein Spiel von Licht und Schatten zu erzeugen, ist ein weiteres charakteristisches Merkmal des Brutalismus. Der Brutalismus fängt beim Rathaus in Wörth am Türgriff an, er führt durch das offene Treppenhaus bis tief hinein ins Gebäude. Für unsere Augen heute eher "gewöhnungsbedürftig" - in den 1970er Jahren "state of the art". 

Die Beton-Kirchen

Die Kirche St. Theodard
Auch die katholische Kirche St. Theodard ist ein interessantes Beispiel für brutalistische Architektur. Sie wurde in den 1960er Jahren ebenfalls auf dem Dorschberg erbaut und zeichnet sich durch ihre kantigen Formen und die Verwendung von rohem Beton aus. Das Innere der Kirche ist durch die großen Fensterflächen lichtdurchflutet und hat trotz seiner kühlen Stimmung eine ungeahnt sakrale und ergreifende Atmosphäre. Erst im September 2023 feierte die Kirchengemeinde ihr 50-jähriges Bestehen.

Die Kirche St. Theodard ist ein Paradebeispiel für die bizarre Schönheit des Wörther Brutalismus | Foto: Heike Schwitalla
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Der Brutalismus mag für einige abschreckend wirken, doch für andere ist er ein Ausdruck von Ehrlichkeit und Authentizität in der Architektur. Die brutalistischen Gebäude in Wörth am Rhein sind ein lebendiges Zeugnis dieser Ära der Architekturgeschichte und bieten einen faszinierenden Einblick in die kulturellen und ästhetischen Ideale dieser Zeit.
St. Ägidius
Zwar nicht im Wörther Betonherz, sondern im alten Ortszentrum befindet sich die Kirche Sankt Ägidius. Aus dem Jahr 1961 stammt diese Wörther Kirche. Dabei handelt es sich ebenfalls um ein recht schroff anmutenden Beton-Bauwerk, beeindruckend hier jedoch die dominanten Betonglasfenster des organisch abgerundeten Saalbaus und ein markanter separater Turm. Architekt war Erwin van Aaken, der besonders für seine Sakralbauten berühmt ist.

St. Ägidius Wörth | Foto: Heike Schwitalla

Die Friedenskirche
Als 1966 der Bebauungsplan der Stadt Wörth für das Neubaugebiet Dorschberg aufgestellt wurde, sind sowohl für eine protestantische als auch für eine katholische Einrichtungen Bauplätze ausgewiesen worden. Allerdings dauerten Planung und Bau des evangelischen Bauwerks um einiges länger: Erst 1981 konnte mit dem Bau eines Gemeindezentrums begonnen werden, das 1984 in Betrieb genommen wurde. Zwar weist die Friedenskirche in ihrer Formgebung noch die harschen Züge brutalistischer Architektur auf, ihre rote Backstein-Fassade verabschiedet sich jedoch schon ganz bewusst von der Kühle des Betons hin zu wärmeren, einladenderen Farben - typisch für den Städtebau der 1980er Jahre, der sich bewusst gegen den grauen Beton absetzten und mit mehr "Menschlichkeit" bestechen wollte.

Die Friedenskirche in Wörth: In den 1980er Jahren lösen Backstein-Fassaden den grauen Beton ab. Die Formen bleiben jedoch "brut" - für viele Augen zu brutal für einen Sakralbau | Foto: Heike Schwitalla
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Die Stadt Wörth am Rhein liefert damit einige Musterbeispiele für die Architektur des Brutalismus. Sie bietet eine außergewöhnliche Gelegenheit, diese oftmals missverstandene und unterschätzte Architekturströmung aus nächster Nähe in der Pfalz - vor unserer Haustür - zu erleben und schätzen zu lernen. Es lohnt sich, einen Blick auf die brutalistischen Gebäude in Wörth zu werfen. Sie mögen auf den ersten Blick vielleicht befremdlich wirken, aber wenn man sich näher mit ihnen beschäftigt, entdeckt man ihre ganz eigene Schönheit und Faszination. Und wer weiß, vielleicht entdeckt manch einer ja sogar eine neue Leidenschaft für diesen ungewöhnlichen Baustil.

Autor:

Heike Schwitalla aus Germersheim

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