Der aufgeblasene Skandal um Jette Nietzard
Vier Buchstaben der Empörung

Foto: Marko Cirkovic

Ein Bild von nicht mal 1000 Pixel Breite stürzte in den vergangenen Tagen ganze Gesprächsräume: eine junge Parteivorsitzende steht entspannt in einem Pulli zeigt vier Lettern, die seit Jahrzehnten als Chiffre radikaler Polizeikritik zirkulieren, dazu passend (oder nicht) ein Duckface. Was ­landläufig als provokanter Sticker auf Konzertplakaten haften blieb, wurde nun zum Anlass für volle Talkshows, Leitartikel und parteiinterne Krisenschalten. Ministerpräsident Winfried Kretschmann sagte unverblümt, er verstehe nicht, „was sie bei uns will“, und schob der eigenen Nachwuchschefin das geistige Gepäck der Linkspartei zu. Cem Özdemir sekundierte, die Polizei schütze schließlich auch jene Werte, für die man selbst antrete . Die Empörung speist sich dabei aus zwei entgegengesetzten Rohstoffen: einem moralischen Impuls, jede Pauschal­verachtung staatlicher Gewalt zurückzuweisen, und einem politischen Reflex, Distanz zum Störgeräusch herzustellen, ehe es den Markenkern beschädigt.

Nun steht außer Frage, dass die Aufschrift „All Cops Are Bastards“ ein grobes Urteil in den öffentlichen Raum schleudert, das differenzierte Kritik am Handeln einzelner Beamtinnen und Beamten eher verhüllt als eröffnet. Wer sich gegen Pauschalurteile gegenüber Minderheiten wehrt, sollte sie auch nicht gegenüber Polizistinnen und Polizisten dulden. Der Pullover war darum kein bloßes modisches Versehen, sondern eine falsche, weil undifferenzierte Geste, die mit dem Anspruch einer Partei kollidiert, Diskriminierung in all ihren Spielarten zu bekämpfen. Gleichwohl springt in der gläsernen Arena der Netzwerke die Nadel des moralischen Seismographen binnen Sekunden von Null auf Ultima Ratio, als ginge es nicht um ein textiles Symbol, sondern um tätliche Gewalt.

Diese Überhitzung des Diskurses folgt einem Muster: Erst schiebt die Opposition das Bild in ihre Blase, versieht es mit empörten Spitzen, dann rücken eigene Parteigrößen nach, um Schaden zu begrenzen, und am Ende suhlen sich alle im Schaum der Entscheidung, wer hoffen darf, politisch über­leben zu können. Die Geschwindigkeit des Fortschreitens ist selbst zur Nachricht geworden; die Schärfe der Formulierungen ersetzt die Mühe der Abwägung, ob es sich um jugendlichen Übermut oder bewusste Grenz­sprengung handelt. Dabei tritt eine problematische Verkürzung ein: Wenn alles in Echtzeit geahndet wird, bleibt allerlei am Rand liegen, was Zeit bräuchte – Einsicht, Gespräch, Revidieren.

Gerade deshalb wirkt die seltsame Lautstärke aus dem eigenen Lager verstörender als die obligatorische Wut des politischen Gegners. Wer sich progressiv nennt, hat sich doch einst verpflichtet, Lernprozesse wertzuschätzen. Freilich birgt jede Organisation einen Selbst­erzeugungsmechanismus: Um glaubwürdig zu bleiben, muss sie Abweichungen markieren; doch je fragiler die Außen­wahrnehmung erscheint, desto härter bedient man sich im Instrumentenkasten der Distanzierung. Resultat ist eine paradoxe Askese: Man will Vielfalt, duldet aber keinen Fehltritt. Eine junge Funktionsträgerin, die den Auftrag ihrer Generation oft darin sieht, Ungerechtigkeit laut zu benennen, landet damit plötzlich im Exzentrikerkabinett.

An dieser Stelle lohnt ein Blick auf jene Verse, die Hugo von Hofmannsthal seinem Färber Barak in Die Frau ohne Schatten in den Mund legt: „Aus einem jungen Mund gehen harte Worte und trotzige Reden, aber sie sind gesegnet mit dem Segen der Widerruflichkeit.“ Das Bekenntnis zur Widerruflichkeit ist kein romantischer Nachlass­verzicht auf Haltung, sondern ein Angebot, Irrtum als notwendigen Zwischenton im Symphonie­orchester des Wachsens zu behandeln. Wer ihm diesen Segen abspricht, verengt Identität auf einen Schnappschuss; wer ihn gewährt, öffnet den Raum, in dem sich Urteilskraft überhaupt erst entfalten kann.

Politische Reifung gleicht weniger einem offiziellen Lehrgang als einer Folge von tastenden Dialogen, in denen ein Mensch seine Begriffe schleift, widersprüchliche Erfahrungen sortiert, alte Parolen ablegt oder nuanciert. All das braucht Gegenrede, keine Guillotine. Deshalb sollte eine Partei, die ihre Zukunft ernst nimmt, Orte schaffen, an denen heikle Haltungen erst erprobt werden, ehe sie das grelle Licht der Öffentlichkeit treffen: Debatten­werkstätten, in denen Mitglieder und kritische Stimmen aus Zivilgesellschaft oder Gewerkschaften gemeinsam ausleuchten, was an einer simplen Formel wie „ACAB“ wahr sein mag und was zerstörerisch pauschalisiert. So wird Konflikt nicht zum parteischädlichen Malheur, sondern zur Ressource, die interne Kompetenz im Umgang mit Ambivalenz stärkt.

Darüber hinaus täte man gut daran, zwischen Irritation, Irrtum und ideologischer Unvereinbarkeit zu unterscheiden. Nicht jede Grenzüberschreitung verdient denselben Hammer. Für Ersttäter reicht oft eine öffentliche Erklärung: Ich sehe ein, warum diese Botschaft verletzend wirkt und formuliere meine Kritik künftig differenzierter. Folgt der gleiche Affront mehrfach, kann man weitergehende Schritte erwägen – etwa Fortbildungen mit Polizeigewerkschaften oder Menschenrechts­organisationen, um das Spannungsfeld von Sicherheits­pflicht und Bürgerrechten eingehender zu beleuchten. Sanktionen sollten erst am Ende einer solchen Lern­kaskade stehen, nicht an ihrem Anfang.

Ein zweiter Hebel liegt in der Art, wie führende Köpfe kommunizieren. Statt reflexartig den eigenen Empörungs­muskel anzu­spannen, könnten sie das gesellschaftliche Publikum an jene Tugend erinnern, die im Lärm fast vergessen wurde: Gelassenheit. Ein kurzer Satz à la „Ich halte das Pauschalurteil für falsch, doch Jette Nietzard ringt um die beste Form der Kritik“ hätte das Thema nicht verniedlicht, aber auch keinen medialen Pranger errichtet. Dass selbst erfahrene Politiker sich inzwischen darauf verlassen, die schnellste Distanzierung sei zugleich die klügste, zeigt, wie mächtig die Logik des Shit­storms geworden ist – und wie dringend man ihr ein Gegen­modell der proportionalen Reaktion entgegen­setzen müsste.

Schließlich verlangt das Netz zwar Tempo, aber es bietet auch einzigartige Möglichkeiten zur Reparatur. Die junge Vorsitzende hat bereits öffentlich eingeräumt, mit dem Foto keine konstruktive Debatte ausgelöst zu haben; sie besitzt den Pullover „als Privatperson“ und halte rückblickend einen anderen Weg für angemessener. Das sollte als Startpunkt weiterer Dialoge dienen, nicht als Endstation einer Exkommunikation. Ein moderiertes Gesprächsformat, in dem Polizei­gewerkschafter, Bürgerrechts­initiativen und Nietzard selbst sachlich über Racial Profiling, strukturelle Gewalt und hoffnungsvolle Reform­ansätze streiten, könnte exemplarisch vorführen, dass auch eine scharfe Parole in einen produktiven Lern­prozess münden kann, wenn man die Beteiligten nicht vorab moralisch vernichtet.

Am Ende steht nicht die Forderung, jede Grenzüberschreitung zu banalisieren; vielmehr geht es darum, Maßstäbe so zu kalibrieren, dass sie den Menschen nicht unter ihrer eigenen Schwere begraben. Wer den Satz „niemand ist je fertig“ ernst nimmt, gönnt auch Politikerinnen das Recht, ungeschickt zu stolpern und sich anschließend an der Hand jener aufzurichten, die sie zuvor schärfstens kritisiert haben. So verwandelt sich ein Skandal vom schimmernden Feuerrad der Entrüstung in eine stille Werkstatt des gemeinsamen Nachdenkens. Die vier Buchstaben auf einem Stück Stoff hätten dann ihren größtmöglichen Dienst erwiesen: nicht, indem sie alle Polizistinnen diffamierten, sondern indem sie uns daran erinnerten, dass moralische Urteile stets im Plural gesprochen gehören – im Bewusstsein ihrer eigenen Widerruflichkeit.

Autor:

Marko Cirkovic aus Durlach

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