Etwas ist im Raum, das größer ist als wir alle
Mahler ‘s Zweite mit dem Tonhalle-Orchester Zürich im Festspielhaus Baden-Baden

Foto: Michael Gregonowits

Das Tonhalle-Orchester Zürich unter Paavo Järvi betritt an diesem Abend im Festspielhaus Baden-Baden mit Gustav Mahlers Zweiter Sinfonie jenen Raum, in dem Musik aufhört, bloß Programm zu sein, und zur Erkundung dessen wird, was ein Menschenleben im Kern ausmacht. Mari Eriksmoen (Sopran), Anna Lucia Richter (Mezzosopran) und die Zürcher Sing-Akademie fügen sich in dieses Gefüge ein, als notwendige Stimmen in einem großen inneren Dialog.

Schon der Beginn der „Totenfeier“ ist kein Auftakt, sondern ein Aufriss. Die Dringlichkeit, mit der Järvi die ersten Takte formt, trifft nicht nur das Ohr, sie zielt tiefer. Das Tempo ist erhaben, nie gehetzt, als müsste der Satz seine eigene Schwere vollständig aussprechen dürfen, ehe man ihm weiter zuhört. Weite lyrische Bögen der Streicher, die nicht beschwichtigen, und den Schmerz in Schönheit fassen, werden immer wieder von den scharfen Schlägen der Trommeln durchschnitten – Erinnerungsblitze, die jede Illusion von Unschuld zunichtemachen. Die Kontraste sind gnadenlos: Alles wächst auseinander hervor, organisch, in einem inneren Zusammenhang, der das Orchester wie einen einzigen atmenden Körper erscheinen lässt. Järvi agiert dabei wie jemand, der Impulse in einen Kreis wirft und sie veredelt zurückerhält – jeder Einsatz ist Anfrage und Antwort zugleich. So präsentiert sich das Tonhalle-Orchester in einer technischen und geistigen Präsenz, die den Vergleich mit den großen Traditionskörpern nicht nur erlaubt, sondern erzwingt.

Der zweite Satz, dieses scheinbar harmlose Andante moderato, wird unter Järvis Händen zu etwas anderem als bloßer Rückschau. Das Ländler-Thema beginnt beinahe zögerlich, als prüfe es, ob es überhaupt noch gültig sein darf, bevor es sich in einen weich schwingenden, rhythmisch fein differenzierten Fluss verwandelt. Hier glänzt der Konzertmeister mit solistischen Linien, die nicht bloß schön sind, sondern verletzbar: ein Ton von nobler Kernigkeit, ein Vibrato, das eher andeutet als betont, kleine expressive Gleiter, die den Lack der Idylle fein anritzen. Järvi lässt das Orchester atmen, zieht es nicht zusammen, er erlaubt den Phrasen, sich zu entfalten und wieder zurückzusinken – so entsteht jener Eindruck von Erinnerung, der weiß, dass das Erinnerte unwiderruflich vergangen ist. Die Schönheit dieses Satzes ist nicht tröstlich, sie ist bewusst.

Mit dem dritten Satz tritt die Ironie des Daseins in den Vordergrund – und zugleich ein Moment von verstörender Unmittelbarkeit. Die Pauke schlägt zu, Mari Eriksmoen zuckt sichtbar zusammen, ein Raunen geht durch den Saal: Für einen Sekundenbruchteil wird erfahrbar, dass diese Musik nicht nur erzählt, sondern trifft. Die kreisenden, tanzenden Figuren, die aus der Wunderhorn-Vorlage gespeist sind, entfaltet das Orchester mit einer Präzision, die den scheinbar spielerischen Charakter sofort als Maskerade entlarvt. Holzbläser, die lachen und doch weinen, Streicher, die einen unaufhörlich rotierenden Untergrund ziehen, aus dem sich immer wieder aufgewühlte Ausbrüche erheben – so entsteht ein Klangbild, das eher einem Karussell über dem Abgrund gleicht als einem Tanzboden. Wenn der Satz sich schließlich in den großen Ausbruch vor dem Übergang zum „Urlicht“ steigert, wirkt dies wie eine plötzliche Bewusstmachung der eigenen Sterblichkeit. Es ist kein bloßes Furioso, sondern ein Schrei, der tief ins Mark geht, eine Erschütterung von beinahe unendlicher Tragweite.

In diesen Riss tritt Anna Lucia Richter mit „Urlicht“. Ihre Stimme, dunkel grundiert und doch von klarer Leuchtkraft, steht im Raum, als wäre jede Distanz aufgehoben. Sie gestaltet die Linien mit einer Schlichtheit, die nichts Naives hat: jedes Pianissimo ist gehalten, jede Wendung kontrolliert, und doch bleibt der Eindruck von etwas unverstellt Menschlichem. Das Orchester hüllt dieses Lied in Bögen, die zugleich himmlisch und erdnah wirken – dunkle Tiefen der Streicher, zarte Holzbläserfäden, ein atmender Untergrund, der das Lied trägt, ohne es zu bedrängen. Im Dialog mit dem Konzertmeister entsteht eine Intimität, die mitten in der riesigen Partitur wie ein innerer Kern aufleuchtet: hier scheint der Punkt erreicht, an dem sich Schmerz in eine andere Qualität verwandelt, ohne zu verschwinden.

Der letzte Satz lässt sich nicht wirklich beschreiben, ohne ihm etwas zu nehmen, und doch muss man es versuchen. Järvi baut diese gigantische Form mit einer Ruhe auf, die gerade in den eruptiven Momenten trägt. Fragmentarische Rufe, klangliche Katastrophen, wieder versinkende Fragmente – alles wirkt wie eine große Landschaft von Prüfungen, durch die sich das Werk hindurcharbeitet. Wenn die Zürcher Sing-Akademie einsetzt, geschieht dies so leise, dass man fast zweifelt, ob schon gesungen wird. Der Chor ist da und zugleich in einer anderen Entfernung, die Bässe mit ihrer kernigen Grundlage, die übrigen Stimmen als schwebende Fläche darüber; Nähe und Ferne überlagern sich.

Aus dieser vokalen Textur heraus steigt Mari Eriksmoens Stimme, als käme sie von einem Ort, der nicht mehr ganz dieser Welt ist. Ihr Sopran entfaltet sich mühelos, klar, mit einer Strahlkraft, die nicht blendet, sondern den Raum öffnet. Zusammen mit Richter und dem Chor entsteht der Eindruck einer Befreiung, die nicht die Welt leugnet, sondern sie annimmt und zugleich überschreitet. Das Orchester steigert sich in ein Finale, das an die Wahrnehmungsgrenze geht, ohne jemals zur bloßen Lautstärkeorgie zu werden. Trotz massiver Besetzung bleiben Strukturen, Farben, Linien hörbar; der Klang türmt sich nicht auf, er wächst. In der Verdichtung des Schlusses scheint für Augenblicke etwas im Raum zu stehen, das größer ist als alle, die an diesem Abend anwesend sind – nicht benennbar, aber unüberhörbar.

Der Jubel, der danach losbricht, ist beinahe grotesk in seiner Wucht, ein reflexhaftes Ventil nach einer Erfahrung, die sich mit Applaus eigentlich nicht beantworten lässt. Und doch ist er verdient, restlos, für Järvi, das Tonhalle-Orchester Zürich, die Zürcher Sing-Akademie, für Mari Eriksmoen und Anna Lucia Richter – für alle, die sich an diesem Abend an den Rand des Sagbaren vorgewagt haben.

Zwischen all dem steht dieses Orchester, das man nach einem solchen Abend nicht mehr nur in nationalen oder regionalen Kategorien denken kann. Das Tonhalle-Orchester Zürich zeigt unter Paavo Järvi eine Souveränität im Umgang mit Mahlers Klangwelten, die technische Perfektion und innere Durchdringung so eng verschränkt, dass der Begriff „Weltklasse“ plötzlich nüchtern klingt, fast zu klein. In den größten Entladungen bleibt jede Stimme konturiert, in den leisesten Momenten trägt der Gesamtklang wie ein einziger, ungemein differenzierter Atem; die Gruppen verschmelzen zu einer Einheit, ohne ihre charakteristische Farbe zu verlieren. Hier spielt kein Körper, der gelegentlich auf Augenhöhe mit den berühmten Referenzorchestern agiert – hier erlebt man einen Klangkörper, der sich auf derselben Stufe bewegt, sie punktuell übertrifft und dabei eine unverwechselbare Handschrift erkennen lässt, die ihn schon jetzt zu den prägendsten Stimmen im internationalen Konzertleben macht.

Zurück bleibt mehr als eine Erinnerung an eine herausragende Interpretation. Es bleibt das Bewusstsein, in welcher Fülle wir hier leben: In Europa, in Deutschland, an einem einfachen Wochenende, in einem Saal wie dem in Baden-Baden, Zeuge einer derart tiefgehenden, qualitätsvollen Auseinandersetzung mit den großen Themen des Menschseins werden zu dürfen, ist alles andere als selbstverständlich. Man verlässt den Saal dankbar, erschüttert, mit feuchten Augen – und mit der stillen Frage, warum man sich im Alltag so selten mit der gleichen Ernsthaftigkeit dem eigenen Leben stellt, wie es diese Musik für uns tut.

Essay im Anschluss an die Kritik

Bevor ich mich den gesungenen Sätzen dieser Partitur zuwende, sei ein leiser Hinweis vorausgeschickt: Was nun folgt, ist kein kurzer Nachsatz, keine elegante Klammer hinter eine Konzertkritik, sondern eine lange innere Wegstrecke. Es wird eine Reise durch das Libretto dieser Sinfonie, durch seine Bilder, Brüche und Zumutungen, durch die Frage, was Mahler hier eigentlich sagt, wenn er von Not, von Licht, von Auferstehung sprechen lässt – und zugleich eine Bewegung in ein sehr persönliches Dunkel hinein, ausgelöst durch ein Ereignis, das weh getan hat und diese Musik für mich unwiderruflich anders färbt. Wer weiterliest, betritt damit einen Raum, in dem sich Deutung, Erinnerung und Erschütterung überlagern, in dem Verse zu Wegmarken werden und jede Zeile plötzlich mehr erzählt als nur ihren unmittelbaren Sinn. Von hier aus öffnet sich der Blick auf jene gesungenen Sätze, in denen Mahler ein inneres Evangelium entwirft, das zwischen den bekannten Büchern steht.

Mahler legt mit den gesungenen Sätzen der Zweiten eine Art inneres Evangelium vor, das keines der bekannten Bücher ersetzt, sondern den Raum zwischen ihnen füllt: den Raum der Angst, des Zweifels, des Schmerzes – und jener eigentümlichen Hoffnung, die erst aus dem Durchgang durch all dies hervorgeht. Das Libretto scheint einfach, fast naiv, doch gerade diese Schlichtheit ist die Maske einer unerhörten Verdichtung. Hinter jedem Satz steht ein Weg, hinter jeder Zeile eine Entscheidung, hinter jedem Bild ein Abgrund.

Der vierte Satz, das „Urlicht“, setzt mit der Anrufung der kleinen roten Rose ein, einem scheinbar unschuldigen Bild aus der Welt der Volksdichtung. Wörtlich genommen ist es eine liebevolle, fast zärtliche Hinwendung zu etwas Kleinem, Zerbrechlichem, das in seiner Farbkraft und Reinheit hervorsticht. Zugleich ist die Rose seit Jahrhunderten ein Zeichen für Liebe, Blut, Wunde, Opfer: Sie ist die kondensierte Gestalt des Leidens, das zur Schönheit geworden ist. Das Bekenntnis „Der Mensch liegt in größter Not, in größter Pein“ benennt dann ohne Umschweife den Zustand dieser Welt: Not als äußerer Mangel, Pein als inneres, existentielles Leiden. Offensichtlich ist es die Klage des einzelnen über Krankheit, Tod, Entbehrung und Schuld – und zugleich der nüchterne Befund über die Menschheit insgesamt. Dem wird der Wunsch gegenübergestellt, „lieber im Himmel“ zu sein: zunächst ganz wörtlich verstanden als Sehnsucht nach einem anderen Ort, einem Zustand jenseits der Qual, als Fluchtbewegung aus der Wirklichkeit.

Wenn das lyrische Ich dann „auf einen breiten Weg“ gelangt, betritt es in der Bilderwelt des Textes eine Zone der Entscheidung. Der breite Weg – im christlichen Sprachraum das Bild für die bequeme Masse, den Weg der Welt – wird zur Szene der Prüfung: Ein Engel tritt entgegen und will den Zugang verwehren. Wörtlich heißt das: Der Himmel ist kein Ort freien Zutritts, es gibt eine Instanz, die sichtet, sortiert, abweist. Die offensichtliche Handlung: Ich stehe vor dem Tor, es gibt eine Grenze, es gibt ein Gegenüber, das „Nein“ sagen kann. Doch die Figur weigert sich, abgewiesen zu werden, wiederholt trotzig: Sie lässt sich nicht zurückschicken.

In der nächsten Wendung wird das Motiv der Herkunft eingeführt: „Ich bin von Gott und will wieder zu Gott.“ Auf der Oberfläche ist das eine einfache Glaubensformel: Der Mensch kommt von Gott und kehrt zu ihm zurück; das Leben dazwischen ist eine Art Exil. Der „liebe Gott“ schließlich wird ein kleines Licht geben, das den Weg bis in das „ewig selig Leben“ erhellt. Das ist in seiner Direktheit kindlich, beinahe katechetisch: Es wird mir Licht gegeben, ich gehe nicht im Dunkeln, am Ende wartet ein „seliges Leben“. Die Szene schließt in einer fast beruhigenden Einfachheit: Not und Pein werden nicht gelöst, aber sie stehen unter einem verheißenden Licht.

Der fünfte Satz, „Aufersteh’n“, beginnt mit Klopstocks großem Ruf an den „Staub“. Wörtlich: Der tote Körper, zur Erde zurückgekehrt, wird nach kurzer Ruhe wieder auferstehen. Unsterbliches Leben wird von dem verliehen, der einst gerufen hat. Die Bilder von Saat und Ernte, vom Herr der Ernte, der die „Garben“ sammelt, sind im unmittelbaren Verständnis biblische, agrarische Metaphern: Der Mensch ist Samenkorn, das in den Boden gelegt wird, um erneut aufzublühen; der Tod ist Ernte, in der Gott die Seinen einholt. Dann übernimmt Mahler das Wort, wendet sich direkt an das Herz: „O glaube, mein Herz, es geht dir nichts verloren.“ Wörtlich gehört das alles in den Raum der Trostrede: Nichts, was du ersehnt, geliebt, erstritten hast, geht verloren; dein Leben war nicht vergebens.

Die folgenden Zeilen steigern diesen Zuspruch: Du bist nicht „umsonst geboren“, hast nicht „umsonst“ gelebt und gelitten. Auf der Oberfläche widerspricht das dem Gefühl vieler Menschen, die ihr Schicksal als zufällig, sinnlos, verschwendet erleben. Der Chor setzt dann mit der großen Dialektik ein: „Was entstanden ist, muss vergehen, was vergangen, auferstehen.“ Zuerst ein nüchterner Satz über Vergänglichkeit – alles Gewordene zerfällt –, dann der Umsturz: Alles Vergegangene wird wiederkehren. Der Imperativ „Hör auf zu beben! Bereite dich zu leben!“ ist wörtlich eine seelische Zurüstung: Hör auf, vor dem Tod zu zittern, richte dich auf das Leben aus, das erst noch beginnt.

In der Mitte des Textes, dort, wo Mahler die Musik ins Leiseste zurücknimmt, wird das Leiden personalisiert: „O Schmerz, du alldurchdringender! O Tod, du Allbezwinger!“ Schmerz und Tod werden wie übermächtige Mächte angerufen, denen der Mensch ausgeliefert war. Wörtlich ist es ein dramatisches Gegenüber: Du hast mich beherrscht, aber nun bin ich dir entronnen, nun bist du „bezwungen“. Die „Flügel, die ich mir errungen in heißem Liebesstreben“ sind im unmittelbaren Verständnis das Bild dafür, dass die Kraft zur Erhebung aus eigener innerer Anstrengung kommt: Durch Liebe, durch Leidenschaft, durch das Ringen des Lebens selbst sind dem Menschen Flügel gewachsen, mit denen er „entschweben“ kann. Das Ziel ist ein Licht, „zu dem kein Auge gedrungen“ ist – also eine Sphäre, die jedem irdischen Schauen entzogen bleibt.

Am Ende bündelt Mahler noch einmal alles im Chor: Mit den errungenen Flügeln entschwebt der Mensch, er „stirbt, um zu leben“. Es kehrt der Auferstehungsruf zurück, nun nicht mehr an den Staub, sondern an das „Herz“, das „in einem Nu“ auferstehen werde. Was den Menschen einmal geschlagen hat – Leiden, Schuld, Tod – wird ihn nun zu Gott tragen. Wörtlich ist das der große Bogen: vom Staub über die Erntegeste bis hin zum inneren Herzen, das sich in einem Augenblick verwandelt. Der Text beginnt bei der äußersten Körperlichkeit und endet in der innersten Regung der Seele.

Doch hinter dieser offensichtlichen Erzählung, die sich in den Bildern der christlichen Tradition bewegt, liegt eine zweite, unterschwellige Ebene. Die kleine rote Rose am Anfang des „Urlicht“ ist nicht nur ein zartes Volksbild, sondern die verdichtete Erfahrung des Lebens überhaupt: Schönheit, die nur existiert, weil sie verwundbar ist. Die Not und Pein, von der die Rede ist, sind nicht nur soziale oder körperliche Missstände, sondern der Zustand des Bewusstseins, das sein eigenes Ende kennt. In dieser Perspektive ist die Sehnsucht nach dem Himmel weniger Flucht als Ausdruck eines tiefen Wissens: Dass die Welt, wie sie ist, dem innersten Empfinden des Menschen nicht genügt.

Der „breite Weg“, auf den das Ich gerät, ist unterschwellig die Bahn der Konventionen, der äußeren Sicherheiten, der religiösen und gesellschaftlichen Formen, in denen sich Erlösung angeblich vollzieht. Der Engel, der abweist, kann daher auch als Symbol jeder Instanz verstanden werden, die den direkten Zugang zum Heiligen reguliert, kontrolliert, verwaltet. Dass das Ich sich nicht abweisen lässt, ist im Untergrund eine Revolte gegen ein bloß institutionelles Heil: Es beansprucht sein Recht auf Ursprung und Ziel, es spricht den Satz „Ich bin von Gott“ nicht im Sinne eines dogmatischen Lehrsatzes, sondern als Selbstvergewisserung. Die Behauptung der Herkunft wird zum Akt der Befreiung: Wer von Gott kommt, ist nicht mehr vollständig verfügbar für die Mächte der Welt.

Das „Lichtchen“, das Gott geben wird, ist auf dieser unterschwelligen Ebene keine äußere Lampe am Ende eines Tarnels, sondern die innere Klarheit, die sich im Menschen entzündet, wenn er seine Herkunft und seine Bestimmung annimmt. Die „ewig selig Leben“ sind dann nicht zuerst ein ferner Himmel, sondern der Zustand eines Bewusstseins, das den eigenen Sinn nicht mehr ausschließlich aus den Wechselfällen des äußeren Lebens bezieht. Das Urlicht ist so gesehen kein fernes, jenseitiges Leuchten, sondern die erste, zaghafte Selbstaufklärung der Seele über ihr eigenes Wesen.

In „Aufersteh’n“ verschieben sich diese unterschwelligen Wahrheiten in eine kosmischere Perspektive. Wenn der „Staub“ angeredet wird, ist das nicht nur der Leib der Toten, sondern die gesamte Vergänglichkeit alles Geschaffenen. Der Text lässt in den Bildern von Saat und Ernte eine tiefe Ambivalenz erkennen: Der Herr der Ernte sammelt, aber er sät auch; der Tod ist notwendig, damit es Auferstehung überhaupt geben kann. Die Zeilen „es geht dir nichts verloren“ und „nicht umsonst geboren, nicht umsonst gelitten“ sprechen dabei weniger von einem mechanischen Wiederersatz verpasster Chancen als von einer geheimen Bilanz des Lebens: Es gibt nichts Erlebtes, das bedeutungslos bleibt. Selbst das scheinbar vergebliche Leiden wird in einer Tiefe aufgehoben, die jenseits unserer Rechnungen liegt.

Das „Hör auf zu beben“ ist unterschwellig eine Aufforderung, das eigene Verhältnis zur Endlichkeit zu ändern. Es geht nicht mehr darum, die Angst zu beseitigen, sondern sie zu durchschreiten. Vorbereitung „zu leben“ heißt dann: sich auf eine Qualität von Leben auszurichten, die nicht mehr an Erfolg, Besitz, Ruhm, an die äußeren Metadaten eines Daseins gebunden ist. Wenn Schmerz als „alldurchdringend“ angerufen wird, ist darin das Wissen enthalten, dass kein Leben ohne ihn denkbar ist – dass aber gerade in dieser Allgegenwart des Schmerzes eine merkwürdige Gleichheit aller Menschen gründet. Der „Allbezwinger“ Tod wird dort, wo er als bezwungen erscheint, nicht ausgelöscht, sondern verwandelt: Er bleibt, was er ist, verliert aber seine definierende Macht über den Sinn.

Die Flügel, die im „heißem Liebesstreben“ errungen wurden, verweisen unterschwellig auf eine Dynamik des Lebens, die stärker ist als das bloße Überleben. Liebe – nicht nur im romantischen, sondern im weitesten Sinn, als Hingabe, Leidenschaft, Mitgefühl – ist jene Kraft, die den Menschen aus der Schwerelosigkeit des bloß biologischen Daseins hinaushebt. Wer liebt, ringt sich gewissermaßen Flügel ab: Er überschreitet sich, geht über seine eigenen Grenzen hinaus. Dass diese Flügel den Aufstieg zu einem Licht erlauben, „zu dem kein Auge gedrungen“, bedeutet unterschwellig: Das Höchste, was der Mensch erreichen kann, ist gerade das, was sich nicht objektivieren, messen, fixieren lässt. Es bleibt entzogen – und ist doch in der Bewegung der Liebe selber schon anwesend.

In einer dritten, transzendenteren Schicht wird deutlich, dass Mahler mit diesem Libretto nicht nur eine religiöse Hoffnung illustriert, sondern einen metaphysischen Vorgang inszeniert, der im Innersten der Wirklichkeit selbst angelegt erscheint. Wenn alles, was entsteht, vergehen „muss“ und alles, was vergangen ist, „auferstehen“ soll, dann ist das nicht nur Trostformel, sondern kühne Behauptung über die Struktur des Seins: Nichts bleibt, wie es ist, und nichts geht je endgültig verloren. Werden und Vergehen sind nicht Gegensätze, sondern zwei Bewegungen ein- und derselben Wirklichkeit, in der die Form sich ändert, die Bedeutung aber nicht verschwindet.

Transzendent ist auch die Verschiebung vom „Staub“ zum „Herz“. Am Anfang steht der Körper, die materielle Seite des Menschen, ausdrücklich als Staub benannt und damit in die große Naturordnung gestellt. Am Ende steht das Herz, die Mitte der Person, als Ort der Auferstehung „in einem Nu“. Dieser Augenblick, in dem das Herz „aufersteht“, ist im wörtlichen Sinn ein eschatologischer Moment, am Ende der Zeit; in transzendenter Lesart ist er zugleich jeder Augenblick, in dem ein Mensch, durch Schmerz hindurch, zu einer neuen Qualität des Bewusstseins erwacht. Auferstehung wird so zu einem Namen für jene innere Umwendung, in der die Angst vor dem Tod in ein Ja zum Leben übergeht, das den Tod einschließt.

Das Urlicht, das zuerst wie ein weit entferntes metaphysisches Prinzip erscheint, ist in dieser Perspektive nichts anderes als der in der Welt aufscheinende Ausdruck einer Wirklichkeit, die immer schon gegenwärtig ist. Die Transzendenz ist hier nicht bloß „dort oben“, am Ende einer Kette von Ereignissen, sondern durchwaltet die Immanenz: im Röschen, in der Not, im Engel, im Trotz des „Ich lasse mich nicht abweisen“, in jedem Schmerz, der alldurchdringend ist, in jeder Liebe, die sich Flügel erringt. Dass kein Auge zu jenem Licht gedrungen sei, heißt dann: Es entzieht sich dem Besitz, nicht der Erfahrung. Es lässt sich nicht haben, nur sein.

Schließlich ist die vielleicht kühnste transzendente Behauptung dieses Textes, dass das, was den Menschen „geschlagen“ hat – all das, was ihn verletzt, erniedrigt, gebrochen hat – nicht nur überwunden, sondern umgewendet wird. Die Wunden bleiben nicht bloße Narben, sie werden zu Trägern der Bewegung „zu Gott“. Schmerz und Tod werden nicht nebenher entschärft, sondern in ihr Gegenteil verwandelt: aus Mächten der Zerstörung werden sie Passagen der Verwandlung. In dieser Umwertung liegt eine Wahrheit, die weit über die religiösen Bilder hinausreicht: Die Erfahrung des Bruchs, der Niederlage, des Scheiterns wird zur Schwelle, nicht zum Ende.

So führt der Text – parallel zur Musik – von der Klage „Der Mensch liegt in größter Not“ über das trotzige „Ich bin von Gott“ und das vertrauende „O glaube, mein Herz“ hin zu einem Zustand, in dem weder Not noch Tod verschwunden sind, sondern aufgehoben in einem größeren Ganzen. Am Ende steht nicht eine billige Vertröstung, sondern die Erkenntnis, dass das Leben nicht gegen den Tod, sondern durch ihn hindurch zu sich selbst kommt; dass die Liebe nicht vor dem Schmerz beschützt, sondern mit ihm Flügel gewinnt; dass nichts, was wirklich gelebt, geliebt, erlitten wurde, ins Nichts fällt.

Und doch bleibt, bei aller tröstenden Weite, die Mahler eröffnet, eine Zumutung zurück, die sich nicht wegdeuten lässt: dass dieses Urlicht, von dem die Musik spricht, im gelebten Leben eines Menschen manchmal kaum noch zu ahnen ist. Die Partitur behauptet eine Verwandlung des Schmerzes, aber sie garantiert sie nicht; sie spricht von einem Sinn, der nichts verloren gehen lässt, und weiß zugleich darum, wie fragil die Wahrnehmung dieses Sinns im Ich einzelnen Augenblick sein kann. Zwischen dem metaphysischen Versprechen der Auferstehung und der erfahrbaren Wirklichkeit eines Tages, einer Nacht, eines einzelnen, verwundeten Herzens klafft bisweilen ein schmerzlicher Abstand. Gerade dort, wo Kunst so leuchtend von Überstieg, von Wandlung, von innerer Heimkehr erzählt, kann sich im Innern eines Menschen das Gefühl verdichten, von all dem ausgeschlossen zu sein.

Vielleicht berührt es deshalb so tief, wenn ein Haus wie das Festspielhaus Baden-Baden, das sich der Schönheit, der Konzentration und der Sammlung rund um solche Werke verschreibt, den Verlust eines Menschen beklagen muss, der als Zuhörerin Teil seines Publikums war – einer Frau, deren innerer Weg abrupt geendet hat, lange bevor die Fragen, die Mahler stellt, für sie noch einmal eine andere Antwort hätten finden können. Es verbietet sich, diesen Bruch ästhetisch zu überhöhen oder ihn nachträglich in eine runde Deutung zu zwingen; gerade aus Respekt bleibt die erschütternde Leerstelle stehen. Und doch lässt sich im Angesicht eines solchen Abschieds nicht vermeiden, dass die großen Sätze von Licht, Verwandlung und innerer Heimkehr plötzlich eine noch dunklere Schattenseite sichtbar machen: jene Stunden, in denen der Mensch sich von ihnen abgeschnitten erlebt, in denen die Musik zwar draußen weiterklingt, aber im eigenen Inneren verstummt. Aus dieser Spannung heraus, aus der Kluft zwischen verheißener Auferstehung und empfundenem Abgrund, beginnt jener andere Text zu sprechen, der nicht mehr vom Trost her denkt, sondern von der Nacht, die ihm vorausgeht.

In manchen Nächten senkt sich das Dunkel nicht einfach über die Welt, es steigt von innen auf. Es kommt nicht vom Himmel, sondern aus den Ritzen der eigenen Gedanken, wird dichter mit jedem Atemzug, bis selbst die Erinnerung an Licht wie ein Missverständnis wirkt. Dann kann sich der Gedanke, die eigene Geschichte abrupt zu beenden, anfühlen wie eine seltsame Form von Klarheit – als wäre plötzlich eine Tür sichtbar geworden, die es bisher nicht gab, ein Ausgang aus einem Haus, das zu eng, zu laut, zu unerträglich geworden ist. Und doch ist diese vermeintliche Klarheit nur eine besonders raffinierte Gestalt desselben Dunkels, das sie zu überwinden verspricht. Was wie eine letzte Entscheidung erscheint, ist oft nur der Moment, in dem die Finsternis gelernt hat, sich wie Wahrheit zu kleiden.

Die Natur kennt den Absturz, das Abreißen, das Unwiderrufliche. Ein Ast bricht, ein Fels stürzt, ein Tier verendet im Winter. Und doch erzählt sie selbst in ihren härtesten Bildern nie von einem reinen Nichts, sondern immer von Verwandlung. Ein zerborstener Baumstamm wird zur Wohnung für andere Lebewesen, ein abgerutschter Hang formt ein neues Tal, die verendete Kreatur wird Teil eines Kreislaufs, den sie selbst nicht mehr miterlebt. Nur der Mensch trägt in sich die Macht, aus Verwandlung ein bloßes Ende machen zu wollen. Doch Sinn ist nichts, was sich im Augenblick erschöpft: Er reicht weiter als das, was ein einzelner Tag, eine einzelne Nacht, ein einzelner Schmerz sichtbar machen kann.

Zwischen Dunkelheit und Licht gibt es keinen endgültig gesicherten Ort. Das Dasein bleibt ein Weg über schmale Grate, durch Täler, in denen der Nebel lange nicht weicht, und über Höhen, auf denen der Blick weit wird.

Die reine, wahre Erkenntnis, die aus diesem Libretto aufscheint, lässt sich daher vielleicht so fassen: Der Mensch ist mehr als das, was an ihm vergeht, und doch gehört alles Vergängliche zu ihm; er kommt aus einer Tiefe, die er nicht gemacht hat, und kehrt in eine Weite zurück, die er nicht begreifen kann; und zwischen Herkunft und Ziel besteht eine einzige, leise, aber unzerreißbare Kontinuität – das Urlicht der Liebe, in deren Bewegung jeder Tod zur Verwandlung wird und jede Auferstehung schon jetzt beginnt.

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Autor:

Marko Cirkovic aus Durlach

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