125. Herrenweinabend
Der Löwe brüllt – der Novize staunt

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„Wie, du warst noch nie beim Herrenweinabend?“ Seit Jahren ernte ich erstaunte Blicke. Doch das 125. Jubiläum reizt. Das wollte ich als „Novize“ nicht verpassen. Alla dann!
„Zum Jubelfest der Löwe brüllt und Bacchus neu das Glas uns füllt“, so das diesjährige Motto. Ohrenstöpsel einpacken? Ich lasse es, doch erwartete ich laute, euphorische Ausgelassenheit, zumal nach zwei Jahren Stillstand aufgrund der Pandemie die Lust zum Feiern groß schien. Außerdem war ich mir unsicher, wie das mit dem Weinkonsum wird. Finden alle das rechte Maß?
17:30 öffnen die Pforten. 1056 fein gewandete Männer, meist mit Schlips und weißem Hemd, strömen in den Saalbau, die traditionelle Feierstätte. Wenig später riecht es bereits auffällig nach Leberwurst, die später noch zu Ehren kommt. „Grundlage schaffen“, brummelt ein Nachbar, schmiert sich ein Wurstbrot und beißt hinein. Überall tischt man Brot, Käse, Wurst und sogar einen echten spanischen Schweinebein-Schinken auf. Später hört man, dass unverpackte Nahrungsmittel am Ende der Tafel Neustadt-Haßloch gespendet werden. 
17:57 wird es gespenstig dunkel. Licht aus – Spot an! Der Einmarsch der Ehrenservicekräfte, darunter Ministerpräsident a.D. Kurt Beck, OB Marc Weigel und Liedertafel-Präsident Frank Sobirey unter den Klängen des Robert-Stolz Marsches der Vereinten Nationen. Der Vorhang öffnet sich. „Das ganze Jahr über wird am Bühnenbild getüftelt“, informiert mich Konrad Helfrich, der seit 25 Jahren anpackt. Er weiß, dass am Tag danach bereits an das Bühnenaussehen des nächsten Herrenweinabends gedacht wird. Ein großer Löwe mit Liederbuch und einem Glas zu seinen Füßen, der genüsslich brüllend in die Luft schaut, ist das diesjährige Motiv.
18:00 ertönen fünf Glockenschläge. Moderator Norbert Schied ist irritiert, sechs sollten es sein. Dann heißt es „Wein marsch.“ Jeder bekommt ein Viertelglas, das er an dem Abend nicht aus der Hand geben soll. In Krügen wird Nachschub gebracht. Diesmal kommt der Wein nicht aus Flaschen, sondern direkt vom Fass auf dem Parkplatz über Schläuche. Nur ein Wein wird am Abend ausgeschenkt, ein trockener, säurebetonter 2021er Bio-Riesling VDP.Gutswein aus dem Hause Müller-Catoir. Kellermeister Martin Franzen präsentiert ihn gekonnt. Der gewann bei einer Blindverkostung gegen 15 weitere eingereichte Weine.
Die Freddy Wonder Combo trat auf, die mit ihrem großen Repertoire jeden musikalischen Geschmack bedienen konnte. Obwohl über dem Rhein zu Hause, begeisterten sie mit Pfalzliedern. Dank der Rockröhre Kai Häfele brachte sie später mit Titeln von AC/DC, Deep Purple und Queen den Saal zum Kochen. 
Dem Vorsitzenden der Liedertafel Frank Sobirey gehört nun die Bühne. Wie es sich für ein 125. Jubiläum geziemt, erinnerte er mit Bildern an die bewegte Geschichte. Der erste Herrenabend der 1867 gegründeten Liedertafel Neustadt e.V. war wohl um 1874. Auf ein Getränk war man anfangs wohl noch nicht festgelegt, so gab es auch Herrenbierabende. Der erste sogenannte Herrenweinabend war wohl 1904, danach teils auch zwei Mal im Jahr. In Kriegszeiten fiel er teils aus. 1970 gab es sogar einmal einen Herren- und Damen-Weinabend, doch der Versuch war wohl misslungen. Die Damen hatten dann den Frauenweinabend geschaffen. Für die ältesten Teilnehmer, Werner Flügel mit 95 und Mundartdichter Paul Tremmel mit 93, der auch ein Gedicht vortrug, gab es tosenden Applaus.
Festredner Kurt Beck betrat die Bühne. Bereits zum 100. Jubiläum hatte er diese Rolle inne. Ob er mit dem brüllenden Löwen gemeint war? Er redete eloquent und pfalzbezogen, doch sprang der Funke nur teilweise über. Dass er zu Beginn aus eingefleischter politischer Korrektheit die nicht vorhandenen Damen begrüßte, das amüsierte. Anschließend begeisterte der „Zirkus Weisheit“ mit artistischen Showeinlagen. Comedian Chako Habekost zeigte gekonnt, dass er den Saal im Griff hat und Lachmuskeln anzuspannen weiß.
Danach waren alle pausenreif. 20 Minuten später läuteten wieder die Glocken. Eine undankbare Aufgabe für einen Moderator, der nicht wie ein Löwe zu brüllen vermag. Nach flotter Musik und Akrobatik folgte die offizielle Mitsingrunde. Ede Eber-Huber mit den Rieslingprinzen und der Combo heizten mit Gassenhauern ein. Beim Pfalzlied der Anonymen Gitarristen standen fast alle auf den Stühlen und schwelgten Arm in Arm. So mancher Löwe sang nicht mehr, er brüllte. Dann heizte die Combo weiter ein, es wurde rockig und immer ausgelassener. Der Wein floss weiter. Gut, dass das Ende mit 22.00 Uhr fest terminiert ist und zuvor eine humorvolle Moritat zum Nachdenken bringen soll – die berühmte Lewwerworschd-Scharade. 1971 wurde sie vom legendären Karl-Heinz Nestle eingeführt. Aktuelle Themen, die Johannes Joa künstlerisch in Szene setzte, waren beispielsweise der Waldbrand am Hambacher Schloss, der Glasfaser-Ausbau, der neue König von England und die Gaspreise. Musikalisch kommentierte das Publikum traditionell „Oh du schääni Lewwerworschd“ auf die Melodie der Nationalhymne. Kurz vor 22:00 Uhr kamen die Ehrengäste auf die Bühne und stimmten den Schluss-Choral „Bacchus, wir danken dir“ an. Dann wieder Glockenschläge. Das Ende wurde eingeläutet.
Das Fazit des Novizen: Gute Musik und ausgesuchter Wein kombiniert mit einer gelebten Tradition, die es nirgendwo anders gibt, faszinieren. Selten habe ich eine solch ausgelassene und mitreißende Stimmung erlebt wie an diesem Abend im Saalbau. Dass 1608 Liter konsumiert wurden birgt die Gefahr, dass manche ihren Alkoholkonsum nicht unter Kontrolle haben, doch beschränkte sich dies auf Einzelfälle. Bestimmt tragen die feine Kleidung, niveauvolle Vorträge und der Humor dazu bei, dass alle aufrecht blieben. Die Stimmung kippte  nie und bis zum Ende war heitere Euphorie zu spüren. Daher werde ich wieder kommen.

Fotos: Michael Landgraf und Markus Pacher

Autor:

Michael Landgraf aus Neustadt/Weinstraße

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