Der Endlose Fall
Doomscrolling zwischen Angst, Verdummung und der verfassungsrechtlichen Pflicht zum Eingreifen

Foto: Marko Cirkovic

Doomscrolling – dieses unablässige Hinabgleiten in nachladende Ströme von Schlagwortfetzen, Bildsplittern und Kurzclips – beginnt harmlos, wie ein letztes Streifen mit dem Daumen, bevor das Licht erlischt. Doch hinter dem glasigen Schimmer des Displays öffnet sich ein Riss, der die Textur unserer Subjektivität wie auch das feine Gewebe des Gemeinwesens zerschneidet. Die Zeit gerät dort in den Strudel eines immergleichen Alarm-Präsens: Jede Nuance wird zum schrillen Jetzt-Pixel, Erinnerung verdunstet, Zukunft schrumpft auf die Dauer eines Fingerwischs. Während Angst den Puls beschleunigt, taumelt darunter eine schleichende Entleerung des Geistes – eine Verdummung, geboren aus Überfülle. Wer stundenlang Signale aufsaugt, ohne ihnen Ordnung abzuringen, verlernt den langen Atem des Urteils; Erkenntnis wird durch Reiz ersetzt, Bildung durch Betäubung.

Phänomenologisch gleicht dieses Szenario Heideggers „Gestell“: Welt erscheint jederzeit verfügbar, doch entzieht sich, sobald man nach ihr greift. Das Bewusstsein verliert sein Zentrum, weil jeder Impuls bereits vom nächsten überschrieben wird. So entsteht ein paradoxes Doppel: Panik als Oberfläche, kognitive Erosion als Grundstrom. Die Achtsamkeit wird zur Schleuder zwischen Cortisol-Schock und dopamineinfachem Trost; der neuronale Lehrplan, an dem sich Bildung abarbeitet, zerbricht in stroboskopisch zerhackte Splitter. Aufklärung, die einst in geduldiger Verdichtung reifte, dreht sich ins Gegenteil: Wir sind informiert bis zur Bewusstlosigkeit und doch unbelehrt.

Gesellschaftlich schlägt dieser Zustand in die Resonanzräume des Politischen. Diskurse, einst von gemeinsamem Sinn getragen, zerfallen in Echokammern rivalisierender Katastrophen. Algorithmen, die Verweildauer monetarisieren, bevorzugen Reiz vor Argument, Trigger vor Kontext. Hoffnung, das elementarste Medium kollektiven Handelns, wird zur exotischen Randbemerkung. Damit gleitet das demokratische Gespräch in eine Kakophonie, aus der kein übergreifender Satz mehr hervorragt – ein Verlust, der nicht nur emotional, sondern strukturell ist: Ohne gemeinsam geteilte Zukunftserzählung bricht die Deliberation zusammen.

Genau hier tritt das Recht als Garant der Freiheitsbedingungen in Erscheinung. Die neurobiologische Daueralarmierung, die jedes neue Negativ-Snippet auslöst, pflanzt dem Körper eine chronische Stressantwort ein; das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) gerät in stille Mitleidenschaft. Zugleich unterhöhlt die gezielt süchtig machende Interface-Architektur jene kognitive Souveränität, die Art. 2 Abs. 1 GG als freie Entfaltung der Persönlichkeit schützt. Die Europäische Grundrechtecharta sekundiert: Art. 35 verlangt ein hohes Niveau des Gesundheitsschutzes, Art. 7 bewahrt den inneren Raum der Privatsphäre – gerade auch vor Technologien, die ihn aufwühlen, bis er sich selbst nicht mehr hört.

Mit dem Digital-Services-Act hat die EU den ökonomischen Motor des Problems benannt: „systemische Risiken“ treten dort auf, wo Designstrategien messbar negative Effekte auf Psyche und Demokratie entfalten. Nach Art. 34 DSA müssen sehr große Plattformen diese Risiken identifizieren und mindern; das legislative Tor steht sperrangelweit offen, um das Herzstück des Problems – die endlose Feed-Mechanik – schlicht zu untersagen. Nationale Normen liefern die Stützpfeiler: Das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 GG) zwingt den Staat, gegen geschäftsmäßig hervorgerufene Gesundheitsschäden vorzugehen; Präzedenzgesetze wie das Jugendschutzgesetz oder der Glücksspielstaatsvertrag zeigen, wie suchterzeugende Technologien reguliert werden dürfen, wenn Autonomie zur Ware wird. Mildere Mittel – Warn-Pop-ups, Zeit-Timer – haben sich bereits als stumpfes Werkzeug erwiesen; die Verhältnismäßigkeit eines echten Verbots bleibt daher gewahrt.

Ein solcher Schritt würde nicht den Inhalt, sondern die Fessel des Formats kappen. Informations- und Pressefreiheit (Art. 5 GG) leben von Besinnung; wer ständig unter Strom steht, kann seinen Willen nicht frei bilden. Das Recht, in Ruhe denken zu dürfen, ist kein Luxus, sondern das Fundament aller anderen Freiheitsrechte. Ein legislatives Stoppschild vor dem Endlos-Scroll befreit darum nicht von Verantwortung, sondern macht Verantwortlichkeit erst möglich. Freiheit ohne reale Wahl ist Fiktion; echte Wahl erwächst erst, wenn Technik nicht länger absichtsvoll die kürzeste Reflexschleife melkt.

Manche vergleichen ein solches Verbot mit digitaler Bücherverbrennung – ein Analogismus, der übersieht, dass Bücher Anfang und Ende, Pausen und Ränder besitzen. Doomscrolling dagegen löscht gerade diese Ränder; verbietet man die technische Endlosigkeit, verbietet man nicht das Denken, sondern schenkt ihm Luft. Man stellt den Atem her, ohne das Atmen zu untersagen. Das Display wird wieder Fenster statt Falltür.

Ethisch bedeutet dies, den Möglichkeitsraum von Zukunft zurückzuerobern. Gesellschaft lebt von Geschichten, die Anschluss stiften, Sinn versprechen, Gestaltbarkeit erahnen lassen. Doomscrolling liefert keine Geschichten, sondern Symptome einer Dauerkrise, in der Zuversicht lächerlich wirkt und Intelligenz ermüdet. Ein staatlich gestütztes Design-Verbot wäre daher Fürsorge, nicht Zensur: ein Akt politischer Achtsamkeit, der Räume schafft, in denen Reflexion, Kreativität und Hoffnung erneut siedeln können.

So bleibt am Ende kein Zweifel: Den doomscrolling-fördernden Interface-Mechanismen den Stecker zu ziehen, heißt nicht, uns das Recht auf Information zu nehmen, sondern das Recht auf Erkenntnis zurückzuerlangen. Erst in der Stille des wiedergewonnenen Zwischenraums kann der Mensch der Welt offensiv begegnen, anstatt ihr panisch nachzujagen – und genau deshalb ist das Ende des endlosen Absturzes nicht nur möglich, sondern verfassungsrechtlich geboten.

Autor:

Marko Cirkovic aus Durlach

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