Interview der Woche
Flutkatastrophenhelfer Dirk Müller im Ahrtal

Foto: Dirk Müller
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Von Markus Pacher

Haßloch.Es waren Tage, die sein Leben verändert haben: Sein ehrenamtlicher Einsatz im Katastrophengebiet an der Ahr wird dem 51-jährigen Haßlocher Dirk Müller in ewiger Erinnerung bleiben. Es sind Tage, in denen man in kürzester Zeit mehr Lebenserfahrung anhäuft, als in vielen Jahren zuvor. Wir sprachen mit ihm über die furchtbare Situation im Krisengebiet während und nach der Flutkatastrophe, aber auch über die positiven Signale und intensiven menschlichen Begegnungen, von denen Dirk Müller sichtlich berührt, berichtete.

??? Wie entstand die Idee, ins Katastrophengebiet zu fahren, um den Flutopfern Hilfe anzubieten?
Dirk Müller: Als ich hörte, was passiert ist, dachte ich zuerst: Na ja, wieder mal Hochwasser, kommt ja öfter vor. Über einen befreundeten Feuerwehrmann habe ich dann erfahren, wie groß das Ausmaß der Katastrophe ist. Da muss was geschehen, dachte ich mir. Zunächst wollte ich mich der Feuerwehr anschließen, bis ich über einen Freund von den Pfadfindern auf deren Einsatz aufmerksam gemacht wurde. Mit ein paar Kumpels, unter anderem meinem besten Freund Alex aus Prag, der sich eigens Urlaub für den Hilfseinsatz genommen hatte, bin ich dann ins Ahrtal gefahren, nachdem ich zuvor einen Facebook-Aufruf mit der Bitte um Sachspenden gestartet hatte. Die Resonanz auf meinen kleinen Film war überwältigend: Innerhalb von zwei Tagen hatten wir das Haus voll, zudem gingen Geldspenden im vierstelligen Betrag ein. Mit mehreren Fahrzeugen und einem Anhänger machten wir uns freitagmittags auf den Weg ins Ahrtal.

??? Wie war die Situation vor Ort?
Dirk Müller: Wir übernachteten etwas außerhalb von Mayschoß bei einem weiteren Helfer auf einem Privatgelände. Am Ortseingang von Mayschoß [Verbandsgemeinde Ahrweiler], wo wir den Kontakt zum Krisenstab herstellten, wirkte alles noch relativ idyllisch. Je weiter wir am nächsten Morgen über die Hauptstraße in den Ortsmittelpunkt gelangten, desto schrecklicher und turbulenter bot sich der Anblick. Da lag schon der komplett verschlammte Hausrat vieler Häuser vor den Türen. Zunächst halfen wir, den Schlamm per Eimerkette aus den Häusern zu tragen und sie leerzuräumen.

??? Hatten Sie gleich Kontakt zu den Bewohnern?
Dirk Müller: Beim dritten Haus hatte ich erstmals Kontakt mit den Einheimischen. Dort hatte ich eine Geldkassette gefunden, deren Besitzer ausfindig gemacht und ihm übergeben. In der Dorfmitte befand sich ein zentraler Versorgungspunkt mit direktem Blick auf die Ahr, wo wir auf ein Gewimmel von ehrenamtlichen Helfern stießen, die sich an den Räumungsarbeiten beteiligten. Da war alles zerstört. Bis zum Fensterbrett des ersten Obergeschosses stand das Wasser. Baumstämme, Autos etc. sind wie Torpedos durch die Häuser geschossen, die Gebäude selbst voller Dreck, Schlamm und Unrat. Erst dort hatten wir erstmals richtig kapiert, was passiert ist. An einem betroffenem Haus am Ende des Ortes arbeiteten wir bis zum Einbruch der Dunkelheit. Die Besitzerin, eine ältere Frau, war am Weinen, neben ihr Ehemann und Schwiegersohn. Ausgestattet mit Schaufeln und Eimer schufteten wir bis zur Erschöpfung. Unterstützt wurden wir dabei von zahlreichen engagierten Menschen, vor allem viele junge Leute waren dabei, außerdem von Polizisten aus Berlin, die nach ihrem offiziellem Dienst selbst die Ärmel hochkrempelten und mit anpackten. Das hat uns sehr beeindruckt. Sehr positiv haben wir auch die super Versorgung der Helfer mit Essen und Trinken wahrgenommen.

??? Wie reagierten die Betroffenen auf Ihre Hilfe?
Dirk Müller: Extrem dankbar. Die Bewohner selbst hatten keine Zeit frustriert zu sein, sondern haben einfach nur funktioniert. Im Verlauf unseres Hilfseinsatzes haben wir Schicksale mitbekommen, die unglaublich sind. Ich denke, für viele wird das ganz schlimm wenn etwas Ruhe einkehrt.

??? Wie haben Sie sich selbst gefühlt?
Dirk Müller: Als ich wieder zurückkam, hat es eine ganze Weile gedauert, bis ich das einigermaßen verarbeitet hatte. Gleichzeitig gingen unaufhörlich weitere Spenden ein, nach dem Motto: „Dir vertraue ich. Wenn du wieder runterfährst, nimm meine Spende mit, dann weiß ich, dass sie gut ankommt“. Am Wochenende darauf bin ich, mit Unterstützung einiger guter Freunde gleich wieder losgezogen, wir haben uns mit gelben Westen ausgestattet, Aufträge eingesammelt, Helfer eingeteilt und vermittelt.

??? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie bereits nach kurzer Zeit im Katastrophengebiet nicht die Rolle eines Mitläufers eingenommen, sondern sich selbst an organisatorischen Abläufen mit Rat und Tat beteiligt und sehr viel Verantwortung übernommen. Wie kam es dazu?
Dirk Müller: Am Versorgungspunkt der Feuerwehr Ludwigshafen herrschte am zweiten Wochenende totales Chaos. Vieles lag kreuz und quer herum. Samstagmorgens war von den Feuerwehrleuten niemand zu sehen. Darüber war ich sehr verwundert, da dieser Punkt eine Woche zuvor dort von der FW Ludwigshafen organisiert und geleitet wurde. Der Stützpunkt war verwaist. Ich habe dann dort die Verantwortung übernommen, einige Helfer angesprochen und eingeteilt und mit der Hilfe dieser großartigen Menschen alles neu sortiert. Grundsätzlich hat im Katastrophengebiet vieles nicht funktioniert. Da ist einiges an vorhandenen Energien verpufft. So wurden an unserem ersten Wochenende die Helfer am Sonntag wegen zwischenzeitlich angesetzter Abräumarbeiten einfach nicht mehr ins Gebiet gelassen. Wir haben entgegen der Order gehandelt, sind einfach reingefahren und geblieben und haben weitergeholfen. Es waren dann fast nur noch freiwillige Helfer vor Ort die dort direkt auch irgendwo geschlafen haben, zum Beispiel auf den Fahrzeugen.

??? Über welche Gegenstände verfügte der ursprünglich von der Feuerwehr Ludwigshafen eingerichtete Hauptversorgungspunkt?
Dirk Müller: Vor allem handelte es sich dabei um Ausrüstungsgegenstände wie Arbeitskleidung, Handschuhe, Schaufeln, Eimer Pumpen, Elektrowerkzeuge jeder Art, Benzin , Schutzausrüstung , Desinfektionsmittel und vieles mehr aber auch Kartons mit angelieferten Kleiderspenden, die niemand mehr annehmen wollte, wurden dort abgelegt. Die Atmosphäre dort erinnerte an einen Schwarzmarkt kurz nach dem 2. Weltkrieg. Von morgens an, als ich den Versorgungspunkt übernommen hatte, bis in die Abendstunden, waren wir nicht nur mit dem Sortieren und Ausgeben beschäftigt, sondern betrieben gleichzeitig einen Tauschhandel mit anderen Versorgungsstationen. Das hat erstaunlich gut funktioniert. Manchmal kamen Anwohner und beobachteten das Szenario, trauten sich aber nicht, um Hilfsgüter zu bitten. Irgendwann haben wir die Leute direkt angesprochen und gefragt, was sie bräuchten. Da sich viele Menschen auch geschämt haben, oder einfach dachten das die Ausrüstung nur für die Helfer ist.

??? An welche Begegnung erinnern Sie sich am intensivsten?
Dirk Müller: Da kam ein älterer Mann mit seiner Schubkarre angefahren, darin einige völlig verschlammte Gegenstände. Dem boten wir einen Dampfstrahler zum Reinigen an. Der Mann sagte, er habe weder Strom noch Wasser. Da wir über beides reichlich verfügten, kamen wir auf die Idee, aus dem Wasser eine Reinigungsstation einzurichten, die von Anwohnern genutzt werden kann . Nach der Aktion kam er zu uns und sagte: „Ich habe nicht mehr viel, aber ich schenke Euch zum Dank meine unbenutzten neuen Wanderschuhe“. Dabei nahm er mich in seine Arme. Ein wildfremder Mensch nimmt mich in seine Arme – das sind unvergessliche Momente, die einem die Tränen in die Augen treiben. Überhaupt: Die Solidarität unter den Helfern war unglaublich. Da waren junge Leute, die augenscheinlich aus der linken bzw. rechten Ecke stammten und gemeinsam an einem Strang zogen und trotz ihrer unterschiedlichen politischen Gesinnung ein gemeinsames Ziel hatten. Oder die Wasserwerfer-Einheit der Polizei, die mit ihren Wasserwerfern durch den Ort fuhren, um die IPC-Container zu befüllen. Normalerweise werden sie ja bei Demos eingesetzt. Diesmal waren sie mit Herzen geschmückt, von Passanten mit Fingern auf die verstaubten Fahrzeuge gemalt - eines der unvergesslichen Bilder, die ich mit Erlaubnis der Polizei mit der Kamera festhielt und in Facebook postete.

??? Wie ging und geht es weiter nach den beiden Wochenenden?
Dirk Müller: Die Spendenaktionen laufen weiter. Auch der nächste Einsatz ist geplant am 21/22. August. Ich bleibe dran und möchte mich auch in der Wiederaufbauphase einbringen. In unserer Facebook-Gruppe „Hochwasserpaten“ geht es um Direkthilfe von Mensch zu Mensch. Über mein umfangreiches Netzwerk konnte ich viele großzügige Sponsoren wie einen Busunternehmer oder den Kurpfalzpark gewinnen. Darunter sind auch einige Unternehmer aus Haßloch wie meinen Freund Peter Rodach, der mir Lagerräume für die Sammelgüter zur Verfügung stellt. Meine Bitte an jeden, den dieses Interview erreicht: Wenn ihr vor Ort helfen könnt, sucht euch einen Ansprechpartner und geht hin und helft. Wenn ihr das z. B. aus gesundheitlichen Gründen nicht könnt, dann spendet bitte oder helft mit, bei engagierten Menschen Aktionen zu koordinieren. Ich helfe gerne so gut ich kann, Kontakte zu knüpfen, bitte geht in unsere Facebook-Gruppe. Das Ahrtal ist im Moment eine Dritte-Welt-Gebiet mitten in der ersten Welt, das wird ein Marathon, der über Monate, eventuell Jahre andauern wird. Mein Dank geht an alle Freiwilligen, egal wie groß oder klein, deren Beitrag war oder noch ist. Ihr seid alle Helden!

Autor:

Markus Pacher aus Neustadt/Weinstraße

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