Wenn Likes zum Lebenssinn werden
LinkedIn Beiträge aus der Hölle
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Was Menschen heute als Erfolg auf LinkedIn sehen: 300 Likes, 150 Kommentare, 50+ Kontaktanfragen und mindestens eine Träne, die beim Lesen eines eigenen Beitrags die Wange hinunterrollt, weil das Feedback „mich wirklich berührt hat 🥹“. Das ist kein Social Media mehr, das ist liturgische Selbstverehrung im KPI-Gewand.
Wir erleben die Geburt eines neuen Berufsstandes: der Erfolgsdeuter des Newsfeeds. Früher haben Priester die Sterne gedeutet, heute deuten Personal-Brand-Coaches die Reichweite. Und immer beginnt es gleich: „Letzte Woche im Call mit einer Kundin…“ – ein Satz, der inzwischen in etwa so glaubwürdig ist wie „Ich frage für einen Freund“. Diese ominöse Kundin ist die Muse des LinkedIn-Zeitalters: nie mit Nachnamen, immer „total berührt“, grundsätzlich dankbar und vor allem: perfekt dazu geeignet, die eigene Dienstleistung glänzen zu lassen wie frisch polierte Thought-Leadership.
Natürlich geht es offiziell nicht um die nackten Zahlen. Likes, Kommentare, Kontaktanfragen – „ja, das sind wichtige KPIs“, aber eigentlich, EIGENTLICH, geht es doch um die Menschen dahinter. Diese Menschen heißen dann „Zielgruppe“, „Audience“ oder „Traumkunden“ und werden poetisch beschrieben wie seltene Schmetterlinge, während man ihnen parallel ein Calendly-Link an den Flügel tackert.
Die Dramaturgie dieser Beiträge ist minutiös genormt, man möchte fast DIN-Norm dazu einführen:
Zuerst wird ein Missverständnis aufgebaut („Viele vergessen, was wirklich dahintersteckt“), dann folgt der lässig eingestreute Erfolgscase („Kundin, erster Monat, alles eskaliert vor lauter Impact“), gefolgt von einem emotionalen Höhepunkt („Feedback, das mich selbst tief bewegt hat 🥹“) und schließlich die moralische Pointe: Erfolg ist nicht die Zahl, Erfolg ist das Gefühl. Das Gefühl allerdings wird praktischerweise in ein skalierbares Programm gegossen, das sich im Dezember zu Sonderkonditionen buchen lässt – Plätze begrenzt, Wirkung unbegrenzt.
Didaktisch betrachtet ist das ein Meisterstück der kontemplativen Inhaltsleere. Die Struktur ist perfekt: Einleitung, Problem, Anekdote, Lösung, Call-to-Action. Nur der Inhalt bleibt konsequent im Aggregatzustand „warmes Luftgemisch“. „Wenn du Menschen bewegst und inspirierst. Wenn du Mehrwert lieferst. Wenn Vertrauen entsteht.“ Man möchte fast dankbar nicken, weil man gerade erfahren hat, dass Wasser nass und Feuer heiß ist.
Man stelle sich denselben Text in einem anderen Kontext vor:
„Was Menschen als Erfolg in der Medizin sehen: erfolgreiche Operationen, dankbare Patienten, stabile Vitalwerte. Aber viele vergessen, was wirklich dahintersteckt: dass es um Menschen geht.“
Ja. Wer hätte das gedacht. Vielleicht sollte man künftig auch Chirurgen-Coaches haben, die auf LinkedIn erklären, dass es beim Herzchirurgen nicht um die Anzahl der Nähte geht, sondern darum, ob der Patient „wirklich berührt“ ist.
Die Krönung ist der pädagogische Schlussakkord: die Rückfrage an die Community. „Was war dein schönstes Feedback zu einem LinkedIn-Beitrag?“ – eine Frage, die ungefähr so selbstreferenziell ist, als würde man im Spiegelkabinett einen Spiegel aufhängen und fragen: „Welches Spiegelbild spiegelt dich am meisten?“ Unter dem Vorwand der Interaktion wird eine kleine Selbstbeweihräucherungs-Parade gestartet, in der alle erzählen dürfen, wann sie das erste Mal geheult haben, weil jemand „Danke für deinen wertvollen Content“ in die Kommentare schrieb.
Natürlich darf am Ende der dezente Verkauf nicht fehlen. „P. S. Wenn du auf LinkedIn sichtbar werden möchtest…“ – dieser Satz ist der digitale Equivalent zum Kellner, der dir nach dem Dessert noch „ganz unverbindlich“ die Weinkarte für den nächsten Besuch dalässt. Hinter jeder Träne lauert ein Upsell, hinter jedem Emoji ein Angebot. Sichtbarkeit ist das neue Seelenheil, und wer noch nicht „sichtbar“ ist, hat LinkedIn offenbar nicht verstanden.
Die Ironie besteht darin, dass diese Beiträge vorgeben, genau das System zu durchbrechen, das sie selbst am aggressivsten bedienen. Sie kritisieren Oberflächen-KPIs – um sie im ersten Absatz stolz aufzuzählen. Sie sagen, es gehe um echte Verbindungen – und verlinken gleichzeitig auf ein skalierbares Coaching-Produkt. Sie sprechen von Authentizität – in einer Tonlage, die so generisch ist, dass man sie problemlos per Serienbrieffunktion auf jedwede Branche anwenden könnte, vom Zahnarzt bis zum Zirkusdirektor.
Und doch funktioniert es. Die Kommentare darunter folgen ebenfalls einem heiligen Kanon:
„So wichtig! 🙌“
„Genau das!!!“
„Danke, dass du das teilst 🫶“
Ab und zu jemand, der mutig ergänzt: „Das musste mal gesagt werden.“ Als ob da nicht schon seit Jahren ganze Heerscharen von Social-Media-Gurus genau dasselbe in endlosen Variationen sagen würden. Es ist ein bisschen, als würde man jeden Morgen neu verkünden, dass die Sonne im Osten aufgeht – und jedes Mal würden zwanzig Menschen erschüttert Beifall klatschen.
Vielleicht wäre der ehrlichste LinkedIn-Post der Welt ganz kurz:
„Was Menschen als Erfolg auf LinkedIn sehen: 300 Likes.
Was ich als Erfolg auf LinkedIn sehe: 300 potenzielle Kundenkontakte.
Was ich dir deshalb sagen werde: Dass es mir eigentlich nur um deine Entwicklung geht.“
Doch dieser Beitrag wird nie erscheinen. Er hätte zwar maximalen Wahrheitsgehalt, aber leider ein sehr schlechtes Conversion-Rating.
Bis dahin bleibt uns also die tägliche Liturgie:
Wir lesen, wie Coaches von Kundinnen erzählen, Kundinnen von Coaches schwärmen, beide gemeinsam von Feedback „wirklich berührt“ sind und am Ende alle „Mehrwert liefern“. Und irgendwo, tief im Inneren, fragt sich ein einsamer Algorithmus: „Hat irgendjemand heute tatsächlich etwas gelernt – oder wurde nur wieder sehr, sehr professionell über das Lernen gesprochen?“
Wenn du beim nächsten „Letzte Woche im Call mit einer Kundin…“-Post das Gefühl hast, spontan in die Tischkante beißen zu wollen, dann sei beruhigt: Das ist kein Mangel an Empathie, das ist ein hochentwickeltes Immunsystem gegen Content-Kohlenhydrate.
Und falls du jetzt denkst: „Wow, dieser Text hat mich wirklich bewegt, ich fühle mich gesehen und verstanden“ – dann melde dich gern bei mir. Im Dezember habe ich noch ein paar freie Plätze für mein exklusives Programm: „Wie du lernst, LinkedIn-Bullshit zu erkennen, bevor er dich im zweiten Absatz mit einem Emoji emotional erpresst.“
Autor:Marko Cirkovic aus Durlach |
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