Das ungeprüfte Leben ist nicht lebenswert
Gedanken zu Altgriechisch und Inklusion

Wir schreiben das Jahr 2020. Es ist Mittwoch, der 7. Oktober, 13:23 Uhr. Ich stehe mit zitternden Knien im Aufenthaltsraum der Universität. Vor knapp einer Woche hatte ich die schriftliche Prüfung, gefolgt von der mündlichen Prüfung. Die Tür öffnet sich, die Prüferin führt mich zurück in den Raum und ich bekomme mein Ergebnis…

Rückblende Oktober 2012: Ich hatte gerade nach zwei Jahren autodidaktischen Lernens das Latinum bestanden. Ich war sehr stolz und dachte, dass ich mit Altgriechisch ähnlich verfahren könnte. Ich musste feststellen, dass das nicht ging und nach sieben Jahren Autodidaktik verschaffte ich mir einen Lehrer, der eine solide Grundlage schuf.

…Ergebnis: Bestanden!
Ἦλθον, εἶδον, ἐνίκησα [älthon, eidon, enikäsa) bzw. veni, vidi, vici: Ich kam, sah (und) siegte.

Der zweite Prüfer, der sich die ganze Zeit mit gekreuzten Armen zurückgelehnt hatte, beugt sich nun vor, legt die Hände auf den Tisch und fragt: „Herr Riedl, Sie haben nun das Graecum. Sie sind kein Student, Sie haben sieben Jahre lang versucht, es zu bekommen. Uns würde interessieren, warum Sie es gemacht haben.“

Eine gute Frage und meine Antwort folgte:
Schon als Kind interessierte ich mich für Geschichte, vor allem für die Antike und Philosophie. Da ich aus einer Arbeiterfamilie stamme und schwerbehindert bin (als Asperger Autist) und meine Eltern sich trotz Anzeichen einer Behinderung nie darum gekümmert haben, habe ich als Kind und Jugendlicher nie ein Gymnasium von innen gesehen, geschweige denn Latein oder Altgriechisch kennengelernt. Ich wurde auf eine Hauptschule geschickt und von meinem Vater zu einer „praktischen Ausbildung“ gezwungen.
Obwohl ich mein Abitur nachgeholt habe, ward ich von meiner Mutter gezwungen, nicht das zu studieren, was mich schon von Kindesbeinen an interessierte. Ich habe mit dem Graecum sozusagen das nachgeholt, was ich wohl schon als junger Erwachsener hätte haben können.

Warum Altgriechisch?
Die Kultur, die Philosophie und die Geschichte haben mich schon von jeher in ihren Bann gezogen; wie Menschen sich organisieren und wie sie, genau wie wir, leben, leiden, sich freuen, miteinander leben, miteinander streiten. Die Literatur allein hat eine Auslese von über 2.000 Jahren hinter sich und gestaltet sich nicht eintönig, sondern bunt und vielfältig wie die Kunstwerke (antike Polychromie, also Vielfarbigkeit) und bietet viel Tröstendes (z.B. Platons Phaidon), Unterhaltsames (z.B. Herodots Historia und Xenophons Anabasis) und natürlich auch Episches (z.B. Pindars Oden).

Die Parallelen sind faszinierend: Obwohl die Menschen damals kein Internet haben, fühlten sie doch wie wir und beschäftigten sich mit Fragen, die bis heute relevant sind:
Was ist der Mensch?
Wer ist der Mensch?
Wo kommt er her?
Wo will er hin?
Was treibt hin an?

Fragen, die sich im übertragenen Sinne auf meine Beratungstätigkeit ummünzen lassen:
Was will die Ratsuchende?
Wo steht sie derzeit?
Wo will sie hin?

So wie eine Ratsuchende zu mir in die EUTB-Beratung kommt, wenn sie einmal nicht weiter weiß, so habe ich mir nach Jahren der Autodidaktik Hilfe gesucht, weil ich an einem gewissen Punkt nicht mehr weiter gewusst habe; denn letztendlich sind wir Menschen alle mehr oder weniger aufeinander angewiesen, weshalb wir einander mehr schätzen sollten.

So wie Menschen mit Behinderungen von der Gesellschaft ausgegrenzt werden, so fristen Latein und Altgriechisch derzeit ein Nischendasein, obwohl beide unsere Gesellschaft sehr bereichern könnten, wenn man sich näher mit ihnen beschäftigte und sie inkludieren würde.

Ich habe trotz meines Autismus gespürt, wie befremdet die Prüfer reagiert haben, als ich ihnen sagte, dass ich eine Behinderung habe. Ich musste an den metaphorischen Elfenbeinturm denken, in dem sich die Klassische Philologie gern verschanzt, allerdings eher freiwillig und nicht gezwungenermaßen, wie es vor Jahrzehnten mit Menschen mit Behinderungen der Fall war und heute leider immer noch ist.

Wäre unsere Gesellschaft nicht viel schöner, wenn Menschen mit Behinderungen und die alten Sprachen ein fester, inkludierter Teil wären?

Autor:

Stephan Riedl aus Rodalben

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