Mein Selbstversuch: Eine Vorstellung vom Leben mit Demenz
Zorn, Frustration und innere Anspannung

Der Demenzparcours kennenzulernen umfasst insgesamt 13 Alltagssituationen. Vom Anziehen bis zum Abendessen kann man selbst erleben, wie sich die Symptome einer Demenz anfühlen.  | Foto: Kollross
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  • Der Demenzparcours kennenzulernen umfasst insgesamt 13 Alltagssituationen. Vom Anziehen bis zum Abendessen kann man selbst erleben, wie sich die Symptome einer Demenz anfühlen.
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Speyer. In Deutschland leben derzeit rund 1,7 Millionen Menschen mit Demenz. Pro Jahr treten mehr als 300.000 Neuerkrankungen auf. Die Zahl der Demenzkranken steigt stetig, da es aufgrund der demografischen Veränderungen zu weitaus mehr Neuerkrankungen als zu Sterbefällen unter den bereits Erkrankten kommt. Nach Vorausberechnungen der Bevölkerungsentwicklung wird sich die Krankenzahl bis zum Jahr 2050 auf rund drei Millionen erhöhen, sofern kein Durchbruch in Prävention und Therapie gelingt. Unter Demenz versteht man eine erworbene Beeinträchtigung der geistigen Leistungsfähigkeit, die Gedächtnis, Sprache, Orientierung und Urteilsvermögen einschränkt. Die Beeinträchtigung kann so schwerwiegend sein, dass die Betroffenen nicht mehr zu einer selbstständigen Lebensführung fähig sind. Verstärkt werden Informationen über das Krankheitsbild, den Umgang mit Menschen mit Demenz und Unterstützungsmöglichkeiten für Angehörige nachgefragt. Aus diesem Grund hat sich in Speyer im Jahr 2007 unter der Moderation des Seniorenbüros die Arbeitsgruppe Demenz gegründet, die sich der gesellschaftlichen Herausforderung, dem Zusammenleben mit Menschen mit Demenz, stellt. Vor kurzem lud das Netzwerk Demenz alle interessierten Menschen ein, im kleinen Saal der Stadthalle, an einem Demenzparcours teilzunehmen. Als ich von diesem Demenzparcours erfuhr, stand für mich schnell fest, dass ich unbedingt daran teilnehmen möchte. Mein Großvater litt selbst unter schwerer Demenz und das war für alle Familienangehörige nicht immer einfach. Fing es doch schleichend an und wir schoben die kleinen Anzeichen der Vergesslichkeit einfach auf sein fortschreitendes Alter. Doch irgendwann ging es dann rasend schnell und mein Opa, der so fremdsprachenbegeistert war, das Glücksrad und seine Kreuzworträtsel liebte, konnte sich an viele Wörter, die Namen seiner Enkelkinder oder Geburtstage nicht mehr erinnern, nicht einmal an seinen eigenen Geburtstag. Er stürzte häufig, trotz Pflegekraft, die bei ihm Zuhause wohnte. Das Verlegen der Schlüssel und des Geldbeutels wurden zum Alltag. Dieser starke, lebenslustige Mann, der sich früher in zahlreichen Vereinen engagierte und für sein Leben gerne Tennis spielte, wurde durch die Demenzerkrankung zu einem komplett anderen Menschen. Er war oft wütend, aber auch hilflos. In mir keimte der Wunsch auf, zumindest ein bisschen verstehen zu können, wie er sich fühlte. Also machte ich mich auf den Weg zur Stadthalle, um an dem Demenzparcours teilzunehmen.

Der Selbstversuch

Zu Beginn wird mir ein Datenblatt mit allen 13 Stationen ausgehändigt, hier kann ich jede einzelne Station abhaken und mir zusätzlich meine Gefühle und Gedanken notieren. Die Erlebnisstationen sind von Symptomen abgeleitet, die im Rahmen einer Demenz auftreten können. So erhält man eine Vorstellung von Leben mit Demenz. Ich schaue mich im kleinen Saal der Stadthalle um und bin schon ein wenig erstaunt, dass gleich zu Beginn der Veranstaltung alle Stationen belegt sind, das Interesse scheint groß. Vor allem nehmen Frauen am Parcours teil, vereinzelt sind auch Männer dabei. Ich beginne an der zweiten Station, da die erste gerade belegt ist. Hier soll ich mir in Ruhe Gedanken machen, wie viele Handlungsabläufe ich benötige, um einen Tisch für eine Person zu decken, samt Kaffee kochen und ein Brötchen schmieren. Schon das fiel mir ein wenig schwer, da solche Handlungsabläufe ansonsten ohne großes Nachdenken vonstattengehen. Also gut, ich gehe in Gedanken alles durch: Schublade öffnen, Servierte herausholen, Schrank öffnen, Tasse herausholen, Wasserkoch einschalten, Butter aus dem Kühlschrank holen und so weiter. Ich zähle 18 Handlungsabläufe. Nun liegen Bilder der einzelnen Handlungen vor mir, die ich in der richtigen Reihenfolge anordnen soll. Ich erschrecke kurz, denn vor mir liegen 42 Bilder, also 42 Handlungsabläufe, um den Tisch für eine Person zu decken. Okay, ich bin erstaunt, aber gespannt, was mich noch so alles erwartet. Station Eins ist frei geworden. Laut Anweisungen soll ich mir Handwerker-Handschuhe überstreifen, dann einen Haushaltskittel anziehen und diesen zuknöpfen. Ich habe in den Handschuhen kein richtiges Gefühl in den Fingern, das Anziehen des Kittels funktioniert noch gut, aber das Zuknöpfen gestaltet sich schon schwieriger. Ganz langsam und konzentriert mache ich mich ans Werk und schaffe es schließlich, alle Knöpfe zu schließen. Alles nicht so einfach, wenn man kaum Gefühl in den Händen hat.
Um mir einen groben Überblick zu verschaffen, mache ich an Station Fünf „Mittagessen“ weiter. In einer einsehbaren Holzkiste ist an der hinteren Wand ein Spiegel angebracht, in der Kiste liegt ein Blatt Papier, auf dem drei Teller eingezeichnet sind, daneben liegen Plastikbesteck und zerknüllte, bunte Notizzettel, die die Lebensmittel darstellen sollen. Nun muss ich in den Spiegel schauen und dann mit dem Besteck jeweils drei „Lebensmittel“ auf die Teller verteilen. Ich verzweifle fast, da meine Handlungen alle spiegelverkehrt ablaufen. Mehrmals fällt mir das Papier von der Gabel, oder ich schiebe es in die falsche Richtung. Ich lege das Besteck ab und atme tief durch, ich spüre, wie ich leicht aggressiv werde, da das Verteilen der „Lebensmittel“ nicht so schnell klappt, wie ich das gerne hätte. Ich versuche es erneut, hoch konzentriert, mein Körper ist verkrampft, doch nach einer gefühlten Ewigkeit schaffe ich die Aufgabe. Bereits nach dieser Station verstehe ich meinen Großvater besser, seine teilweise aggressiven Anwandelungen, als er es nicht mehr schaffte seine Rinderrouladen alleine zu rollen und festzustecken. Er konnte das doch immer, wieso wollen die Hände jetzt aber nicht mehr so wie er?
Ich absolviere noch eine Orientierungsaufgabe, bei der ich mir einen vorgezeichneten Weg zu einem See merken muss, dafür habe ich 60 Sekunden Zeit. Die Hälfte des Weges konnte ich mir merken, doch dann ließ mich meine Erinnerung im Stich. Zu den Symptomen einer Demenz zählen Störungen der Orientierung. Bei Krankheitsbeginn können sich Menschen mit Demenz in ihrer bekannten Umgebung noch gut orientieren. In fremder Umgebung ist es schwieriger, denn neue Informationen müssen gespeichert und wieder abgerufen werden. Hinzu kommen Orientierungsstörungen zu Zeit, Situation und Person. Dies hat zur Folge, dass Ereignisse aus der Vergangenheit zur Gegenwart werden. Man nennt das Zeitgitterstörung. Im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung verschwinden Erinnerungen und Menschen mit Demenz fühlen sich selbst in der vertrauten Umgebung fremd. Menschen mit Demenz haben keinen Ort mehr, an dem sie sich zu Hause fühlen. Was bleibt, ist das leidvolle Empfinden, alleine zu sein.

Frustriert und genervt von mir selbst

Frustration und Gereiztheit zieht sich wie ein roter Faden durch meine Absolvierung der Stationen. Extrem wird es bei der Station „Bürotätigkeit“. Ich soll eine Geburtstagskarte gestalten, wieder in der Holzbox mit dem Spiegel. Lediglich der Name, das Geburtsdatum und ein paar einfache Formen soll ich zeichnen. Ich breche die Aufgabe ab und lasse eine Dame an die Station, da ich zu frustriert und genervt von mir selbst bin. Meine Schrift sieht aus, wie von einem Kindergartenkind. Kritzeleien, keine erkennbaren Blumen oder Vierecke, einfach nur furchtbar. Ich begebe mich wieder zum Ausgang und treffe auf Ria Krampitz vom Seniorenbüro, sie fragt nach meinen Gedanken und Gefühlen. „Ich bin einfach nur gefrustet, körperlich angespannt und innerlich leicht aggressiv. Ich konnte die Stationen nicht alle durchmachen, da ich mich so sehr über mich selbst geärgert habe. Ich bin ein Perfektionist, bei mir muss alles schnell gehen, aber dabei auch sorgfältig erledigt werden. Manche Stationen haben mich tatsächlich an meine Grenzen gebracht“, erzähle ich ihr. Derweil läuft eine ältere Dame an uns vorbei, ihr Mann ist an Demenz erkrankt, sie bedankt sich bei Krampitz: „Mir hat das hier heute so viel gebracht. Ich kann meinen Mann nun besser verstehen. Vielen Dank dafür!“ Und genau das empfinde ich auch: Dankbarkeit. Ich bin dankbar, meinen Großvater nun besser verstehen zu können, dankbar, dass es das Netzwerk Demenz gibt und Menschen, die sich so sehr für Demenzkranke und ihre Angehörige einsetzen. Ich kann diese Erfahrung nur jedem ans Herz legen.

Weitere Informationen:
Wer sich näher mit dem Thema Demenz beschäftigen möchte, der kann sich den kostenlosen Wegweiser „Gemeinsam Leben mit Demenz“ hier herunterladen. In gedruckter Form ist er erhältlich im Bürgerbüro, bei der Tourist Information und im Seniorenbüro.

Autor:

Wochenblatt Speyer aus Speyer

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